Als Stagiaire übergab er das Schweizer EU-Gesuch. Heute ist Roberto Balzaretti (50) Botschafter bei der Europäischen Union. Seine wichtigste Eigenschaft: ein rebellischer Geist.
Fabian Fellmann, Brüssel
Es sei, wie auf einem laufenden Motorrad zu sitzen und vergeblich auf das Startsignal zu warten, sagt Roberto Balzaretti über seine Arbeit. Der 50-jährige Tessiner ist Schweizer Botschafter bei der Europäischen Union. Zu gern würde er in Brüssel die Gespräche über die Personenfreizügigkeit richtig in Gang bringen, welche das Schweizer Stimmvolk vor eineinhalb Jahren verlangt hat. Bisher ohne Erfolg.
Statt den Abschluss neuer Verträge zu feiern, ist Balzaretti mit der Beilegung kleinerer und grösserer Streitigkeiten beschäftigt, welche seit der Masseneinwanderungsabstimmung das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU trüben. Von Frustration will Balzaretti aber nicht reden. Stattdessen sagt er: «Ich bedaure es, dass sich die EU nicht auf eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Personenfreizügigkeit einlässt.»
Auf alle Arten versucht der Diplomat, die EU-Vertreter zu überzeugen, dass die Schweizer wirklich ein Problem mit der Zuwanderung haben, auch mit gezielter Provokation. Im EU-Parlament etwa wies er im Frühjahr schroff Kritik an der Masseneinwanderungsabstimmung zurück: «Ein Volksentscheid ist niemals ein Problem», wetterte Balzaretti. Es habe ihm Spass bereitet, dem Parlament eine kleine Lektion in Demokratie zu erteilen, sagt Balzaretti Ende Juli. Hier, in seinem Büro in der Schweizer Mission an der Place du Luxembourg in Brüssel ist er ganz Diplomat: dunkler Anzug, gewellte Haare, markante Gesichtszüge. Hier leitet Balzaretti ein Team von gut drei Dutzend Angestellten.
Nur die Krawatte fehlt am letzten Arbeitstag vor den Sommerferien, ein feiner Hinweis darauf, dass der Schnelldenker und -sprecher kein Diplomat der alten Schule ist. Er macht aus seinem Herzen meist keine Mördergrube, antwortet manchmal ironisch, provozierend – forsch bis schnippisch, wie es im Bundeshaus heisst, oder mit mediterranem Temperament, wie es der EU-Abgeordnete Andreas Schwab beschrieb. Balzaretti sagt: «Direkt zu sein gehört zu meinem Naturell.» Aber er wisse auch, die Form zu wahren. Nur: Viele diplomatische Formen seien in Brüssel nicht mehr angebracht, es herrsche ein geschäftsmässiger Umgang, für Floskeln fehle die Zeit. Mitarbeiter nennen Balzaretti einen guten Chef, der sie selbstständig arbeiten lasse. Bei den EU-Institutionen attestiert man dem Schweizer, dass er erkannt habe, wie wichtig es sei, die Beziehungen auf allen Ebenen zu pflegen. Dabei wirke Balzaretti nie aufdringlich.
Bald dürfte die Brüsseler Episode für den Tessiner jedoch ein Ende finden: Gemäss Turnus soll er im kommenden Sommer Brüssel verlassen, um eine neue Aufgabe zu erhalten, die Stelle wurde kürzlich intern ausgeschrieben. Wohin es ihn, seine Frau und die fünf zum Teil erwachsenen Kinder verschlagen wird, weiss Balzaretti nicht – das gehört zum Leben eines Diplomaten. Den Kontakt mit dem Tessin halte er dank Familie und Freunden aufrecht, sagt er, und bei Besuchen höre er sich immer in der Beiz um, wie über die EU geredet werde. Er selbst scheint die Heimat nur bedingt zu vermissen. «Ich liebe das Tessin, aber ich habe die Welt gewählt», sagt Balzaretti, der bei Mendrisio aufwuchs.
Nach dem Gymnasium studierte er in Bern Rechtswissenschaften und doktorierte. Eine besondere Beziehung zur EU knüpfte er als diplomatischer Stagiaire in Brüssel, wo er mit Botschafter Benedikt von Tscharner am 20. Mai 1992 das Schweizer Beitrittsgesuch übergab. Nach einem Abstecher zur Credit Suisse trat Balzaretti eine Stelle im Aussendepartement an. Vier Jahre später war er Kabinettschef von SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und danach ihr Generalsekretär, bevor er 2012 Botschafter in Brüssel wurde. Hier beschäftigen ihn nun nicht allein die Reibereien zwischen der Schweiz und der EU, sondern auch die EU-interne Krise. «Selbst wenn die Mitgliedsstaaten unglaublich Mühe haben, gemeinsame Lösungen zu finden: Es gibt keine Alternative zur EU», sagt Balzaretti.
Ist er der Richtige, um in Brüssel die Forderungen einer SVP-Volksinitiative zu vertreten? Balzaretti macht kein Geheimnis aus der Tatsache, dass er die Initiative abgelehnt hat – gemäss der Parole von Bundesrat und Parlament, wie er betont. Die Initiative sei «nicht die richtige Antwort zur Steuerung der Migration. Aber das Volk hat abgestimmt, und ich habe überhaupt keine Mühe damit, diese Entscheidung zu vertreten», antwortet Balzaretti. Politiker nehmen ihm das nur bedingt ab. «Er hat einen ganz schwierigen Job, weil er etwas vertreten muss, von dem er nicht überzeugt scheint», sagt CVP-Nationalrätin Kathy Riklin, Vorsitzende der EU-Delegation der Bundesversammlung. Schwierig ist Balzarettis Job aber auch, weil das Berner Personal, mit dem er zusammenarbeitet, ständig wechselt. Vor den Sommerferien etwa hat der Bundesrat angekündigt, einen neuen EU-Verhandlungskoordinator zu bestellen. Balzaretti selbst komme dafür nicht in Frage, heisst es im Bundeshaus. Balzaretti sagt, die Distanz zu Bern bereite ihm keine Probleme, er sei dort gut vernetzt, das gehöre zu seinem Job.
Den Ausgleich zur Arbeit schafft der Diplomat, indem er frühmorgens mit seinen Hunden durch den Wald unweit seiner Residenz im schicken Brüsseler Stadtteil Ixelles läuft – oder beim Taekwondo, einer koreanischen Kampfsportart, in der Balzaretti auch schon mal Holzplatten mit Händen und Füssen zertrümmert. Dort lerne er viele wichtige Eigenschaften wie Durchhaltefähigkeit, Selbstkontrolle und Respekt für andere, sagt Balzaretti: «Aber die Wichtigste ist ein rebellischer Geist.»
Das passt zum Image, das ihm die «Weltwoche» andichtete: Er gleiche dem Filmstar Robert de Niro. Seither lächelt Balzaretti höflich, wenn er auf seine Qualitäten als Action-Held angesprochen wird. Dem Schweizer Fernsehen sagte er, er würde sich eher mit Bruce Willis vergleichen. Der habe Humor. Am bekanntesten ist Willis für seine unglaubliche Überlebensgabe, mit der er sich fluchend durch Explosionen, Schiessereien und wilde Verfolgungsjagden kämpft, um schliesslich als blutüberströmter Held in die Arme seiner Liebsten zu sinken. Doch Willis muss auch nie auf ein Startsignal warten, wenn er auf einem laufenden Motorrad sitzt.