Interview
Erziehungsdirektoren empfehlen Verzicht auf schriftliche Prüfungen: Kommt man jetzt im Schlafwagen zur Matura?

Silvia Steiner sagt, weshalb die Kantone auf Bussen verzichten, wenn Eltern ihre Kinder aus Angst vor dem Coronavirus von der Schule fernhalten. Und die Präsidentin der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren erklärt, weshalb ein Maturazeugnis auch ohne schriftliche Abschlussprüfungen aussagekräftig sei.

Kari Kälin
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Schülerinnen und Schüler der Kantonsschule Glarus während einer Prüfung.

Schülerinnen und Schüler der Kantonsschule Glarus während einer Prüfung.

Bild: Gaetan Bally/Keystone

Silvia Steiner, hätten Sie als Kind Freude gehabt an einer Schulschliessung?

Nein, ich hätte mich schnell gelangweilt. Den ganzen Tag zu Hause zu verbringen, wäre nichts für mich gewesen.

Am kommenden Mittwoch wird der Bund Vorgaben für die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts vom 11. Mai in der Volksschule machen. Mit welchen konkreten Massnahmen rechnen Sie?

Wir gehen davon aus, dass der Bund Eckwerte in drei Bereichen erlassen wird: Erstens zum Schutz der vulnerablen Personen, namentlich der Schüler, ihrer Eltern und der Lehrpersonen. Zweitens erwarten wir Angaben zum Thema Prävention und Aufklärung, drittens zur Umsetzung der Hygienemassnahmen.

Wird es vor allen Schulzimmertüren Desinfektionsspender geben?

Die Details sind noch nicht spruchreif, dazu kann ich mich nicht äussern. Der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) ist es wichtig, dass die Kantone genügend Spielraum bei der Umsetzung der Schutzkonzepte haben, dass sie den unterschiedlichen Voraussetzungen in den einzelnen Gemeinden und Schulen Rechnung tragen können. Wir müssen zum Beispiel die Bedenken von Westschweizer Kantonen ernst nehmen, sie haben grössere Infektionsraten und stehen der Schulöffnung skeptischer gegenüber als die Deutschschweiz.

Silvia Steiner

Silvia Steiner

Bild: PD

Ist das Einhalten der Coronaregeln in einer Primarklasse mit 20 Schülern realistisch?

Es ist unrealistisch, dass sich die Schüler im Klassenzimmer und im Turnunterricht nie näher als zwei Meter kommen. Es ist aber wichtig, dass sie im öffentlichen Raum die Abstandsregeln respektieren und maximal in Fünfergruppen unterwegs sind. Ich traue es den Lehrern zu, die Kinder für diese Anforderungen zu sensibilisieren.

Werden die Kantone gefährdete Schüler oder Schüler von gefährdeten Eltern vom Unterricht dispensieren?

Der Bund wird zu diesem Thema keine detaillierten Weisungen erlassen, auch die EDK verzichtet bewusst darauf. Die Kantone müssen den Einzelfall bewerten und abwägen zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit von Schülern und deren Angehörigen sowie dem verfassungsmässigen Recht auf Bildung.

Genügen eineinhalb Wochen Vorlaufzeit, um den Unterricht für den Coronamodus vorzubereiten?

Der Fahrplan ist extrem sportlich. Das definitive Schutzkonzeptes des Bundes steht noch aus. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns so gut wie möglich auf die Eventualitäten einzustellen. Es wird nicht vom ersten Tag an alles reibungslos klappen. Ich mache ein Beispiel: Für die Lehrpersonen wird es eine grosse Herausforderung sein abzuklären, wo die einzelnen Kinder nach dem wochenlangen Fernunterricht stehen, wo sie mit dem Unterricht wieder anknüpfen können.

Das Gesetz sieht Bussen vor für Eltern, die ihre Kinder von der Schule fernhalten. Werden die Kantone Sanktionen aussprechen, wenn Eltern ihre Kinder aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus nicht in die Schule schicken?

Davon sehen wir bewusst ab. Es ist wichtig, dass die Menschen in dieser schwierigen Phase wieder Vertrauen in die Volksschule aufbauen. Mit Bussen werden wir die Ängste nicht vertreiben. Vielmehr werden wir das Gespräch suchen müssen, gerade auch mit Eltern, welche selber zur Risikogruppe gehören. Ich bin zuversichtlich, dass wir im Dialog passende Lösungen für den Einzelfall finden werden.

Wie viele Lehrpersonen gehören zur gefährdeten Gruppe?

Das wissen wir nicht. Es würde aber nichts bringen, wenn jemand mit Angst vor einer Klasse steht.

Können die Schulen einen Ausfall der vulnerablen Lehrer überhaupt verkraften?

Ich habe grosses Vertrauen, dass auch Lehrpersonen mit gesundheitlichen Problemen ihrem Beruf nachgehen, weil sie Freude daran haben. Es ist entscheidend, dass die Schulen für sie ein Schutzkonzept umsetzen können. Da sind vor allem auch die Schulleitungen gefordert.

Ist eine Mischform von Präsenz- und Fernunterricht denkbar? Damit könnte man vulnerable Lehrer schützen.

Der Aufwand für diesen Tanz auf zwei Hochzeiten wäre sehr gross. Ich finde das keine gute Idee. Wir dürfen die Lehrer jetzt nicht überlasten, sondern müssen sorgfältig mit unseren Ressourcen umgehen. Entscheiden wird letztlich der Bund. Ich bin zuversichtlich, dass er die pädagogischen Inputs der Kantone berücksichtigen wird.

Sollen einzelne Kantone ihre Schulen auch später als am 11. Mai öffnen dürfen?

Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner.

Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner.

Bild: Thomas Delley/Keystone

Aus Sicht der EDK spricht nichts dagegen. Die Kantone sollen selber entscheiden, wann sie den normalen Betrieb wieder hochfahren. Die EDK wird sich auf Eckwerte bei den Schutzkonzepten einigen, aber keine didaktischen und operativen Vorgaben definieren.

Damit drohen aber die Kinder von Kantonen, die noch zuwarten, mit dem Schulstoff in Rückstand zu geraten.

Da sehe ich keine Nachteile. Mit dem Lehrplan 21 haben wir die Lernziele harmonisiert. Am Ende der obligatorischen Schulzeit sollen alle Kinder den gleichen Wissensstand haben. Es ist nicht so tragisch, wenn dies im Sommer 2020 nicht der Fall ist. Das kann man aufholen.

Der Kanton Zürich wird keine Noten geben und im Zeugnis den Vermerk «Coronapandemie» festhalten. Empfehlen Sie dieses Vorgehen auch anderen Kantonen?

Es liegt mir fern, anderen Kantonen etwas zu empfehlen. Wir haben die Situation im Kanton Zürich analysiert und sind zum Schluss gekommen: Die Ausgangslage ist für die einzelnen Kinder in den einzelnen Gemeinden sehr divers. Es wird für die Lehrer sehr aufwendig, die Kinder wieder in den Klassenverband zu integrieren, weil sich der Fernunterricht unterschiedlich auf deren Wissensstand auswirkt. Es scheint uns wichtiger, dass die Lehrpersonen den Schülern eine sorgfältige Rückmeldung über deren Arbeit während des Fernunterrichts geben. Die Notengebung wäre eine zusätzliche Belastung.

An was sollen sich die Lehrbetriebe orientieren?

Die relevanten Noten für den Übergang zur Berufslehre werden im Februar gemacht. Für die Oberstufenschüler, die auf noch auf Lehrstellensuche sind oder schnuppern möchten, fertigen die Lehrer Lernberichte an.

Ohne Noten könnte sich bei einigen Schülern der Schlendrian einschleichen.

Diese Gefahr sehe ich nicht. Es wäre ein Armutszeugnis, wenn die Lehrpersonen die Schüler nur wegen den Noten an der Stange halten könnten. Vielmehr wird das dank gutem Unterricht gelingen. Und gerade auf der Oberstufe müssen die Jugendlichen wissen, dass sie fürs Leben lernen und nicht fürs Zeugnis.

Einige Kantone geben Noten, andere nicht, ärgert Sie die uneinheitliche Lösung?

Nein. Der föderale Flickenteppich ist grundsätzlich durch den Lehrplan 21 beseitigt. Und selbst wenn einige Kantone Noten erteilen, wird dort im Zeugnis die Coronapandemie vermerkt.

Die EDK empfiehlt den Kantonen, auf mündliche Maturaprüfungen verzichten. Weshalb hat die EDK nicht einen generellen Verzicht beschlossen?

Wir wollen den Kantonen Freiheiten lassen. Für viele bedeutet die Maturaprüfung eine Art psychologischer Abschluss eines wichtigen Abschnitts einer Bildungskarriere.

Einige Kantone haben angekündigt, schriftliche Maturaprüfungen durchzuführen, andere wie Zürich oder Bern wollen darauf verzichten. Kommt man in prüfungsfreien Kantonen im Schlafwagen zur Matura?

Die Gymnasiasten haben auf dem Weg zur Matura ein mehrjähriges, strenges Promotionsverfahren durchlaufen. Es wäre ein Armutszeugnis, wenn dieser Leistungsausweis respektive die Erfahrungsnoten nicht genügten, um nachher an einer Hochschule zu studieren. Die Universität Zürich hat mir übrigens bestätigt, dass sie keine Zweifel an der Studierfähigkeit des diesjährigen Maturajahrgangs hegt.

Stört die föderale Vielfalt bei den schriftlichen Prüfungen nicht?

Nein. Ich kann gut mit ein paar Farbtupfern leben. Ich gebe zu bedenken, dass sich nach einem langen Intermezzo mit Fernunterricht einige Probleme stellen. Wie können wir die Chancengerechtigkeit sicherstellen? Hatten alle die gleichen Lernbedingungen? Können die Prüfungen auch bestanden werden, wenn die Schüler während Wochen nur von der Ferne unterrichtet wurden? Die Prüfungen müssen auch rekursfähig sein. Ergo müssten die Mittelschullehrerinnen und -lehrer neue Prüfungen schreiben. Es geht auch darum, deren Ressourcen zu schonen.

Der Entscheid zu den schriftlichen Prüfungen liegt beim Bund. Er müsste die Maturitätsverordnung mit Notrecht ändern. Was tut die EDK, wenn Sie mit ihrem Antrag dazu beim Bundesrat scheitert?

Die EDK-Plenarversammlung hat sich einstimmig dafür ausgesprochen, den Entscheid den Kantonen zu überlassen. Diverse Kantone, die 67 Prozent der Maturanden stellen, haben sich bereits gegen schriftliche Prüfungen ausgesprochen, unter anderem die ganze lateinische Schweiz. Wenn der Bund auf den schriftlichen Prüfungen beharrt, beschert das einigen Kantonen grosse Probleme bei der praktischen Umsetzung. Ob dem Bundesrat unser Antrag gefällt, weiss ich jedoch nicht.

Zur Person

Als Staatsanwältin jagte Steiner Menschenhändler

Silvia Steiner (CVP) ist seit 2015 Bildungsdirektorin des Kantons Zürich und Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. Vor ihrer Wahl in den Regierungsrat jagte sie im Kanton Zürich während zehn Jahren als federführende Staatsanwältin Menschenhändler. Die 62-jährige Steiner, ausgestattet mit einem Doktorentitel in Kriminologie, war auch sportlich erfolgreich. In den 1980er-Jahren wurde sie mit dem Damenhandballclub Zürich Schweizer Vizemeisterin.