Jean-Claude Juncker, Chef der EU-Kommission, kann bei der schärferen Gangart gegenüber der Schweiz auf die EU-Staats- und -Regierungschefs zählen. Das liegt am Brexit.
Remo Hess
Da hilft auch alles Lobbyieren nichts mehr: Die Entscheidung der EU-Kommission, den Druck auf die Schweiz beim Rahmenabkommen zu erhöhen, wurde von höchster Ebene abgesegnet. «Mehrere Mitgliedstaaten waren sehr unzufrieden, dass es nach dem Treffen in Bern keinerlei Fortschritte beim institutionellen Abkommen gab», heisst es von einer gut unterrichteten Quelle in Brüssel. Entsprechende Diskussionen zwischen EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Staats- und -Regierungschefs hätten am Rande des Gipfeltreffens in Brüssel vergangene Woche stattgefunden.
Unmittelbar danach hat die EU-Kommission den Antrag an die Mitgliedstaaten verschickt, wonach der Schweiz die Gleichwertigkeit der Börsenregulierung nur provisorisch zuzugestehen sei. Dieser wurde gestern einstimmig angenommen, einzig die Briten haben sich enthalten, wie Recherchen zeigen. Alle Anstrengungen der Schweizer Diplomatie, noch einige EU-Länder auf ihre Seite zu ziehen, waren vergeblich. Die Umsetzung des Beschlusses ist nur noch Formsache und wird heute erfolgen.
Ursprünglich hätte die sogenannte Äquivalenz-Erklärung der Schweizer Börsen-Regeln unbefristet gelten und damit den Handel europäischer Aktien in der Schweiz langfristig sicherstellen sollen. Ein solcher Beschluss wurde von den EU-Staaten Mitte November auch gutgeheissen. «Die Umstände haben sich geändert», begründete der EU-Finanzkommissar Valdis Dombrovskis gestern den Meinungsumschwung. Erstmals offiziell bestätigte er auch den Zusammenhang mit dem institutionellen Rahmenabkommen, wo es «keine substanziellen Fortschritte» gegeben habe. Die EU habe das Recht, auch bei rein technischen Äquivalenz-Beschlüssen den politischen Kontext miteinzubeziehen, so Dombrovskis weiter. Bundesratssprecher André Simonazzi wehrte sich gestern gegen die «Politisierung einer technischen Frage». Der Bundesrat werde «adäquate Massnahmen» prüfen. Was das genau heisst, liess er offen. Dass sich Brüssel vom Bundesrat in Sachen Rahmenabkommen veräppelt fühlt, sagte ein EU-Diplomat ungewöhnlich offen: «Es gibt einen EU-Beschluss, dass es das Rahmenabkommen jetzt geben muss. Aber die Schweiz liefert nicht.» Er verweist auf den Besuch von Bundespräsidentin Doris Leuthard vom April 2017 in Brüssel, wo sie mit Juncker vereinbart habe, alles zu tun, um das institutionelle Abkommen in der zweiten Hälfte 2017 abzuschliessen. Nun habe die Schweiz ein Jahr Zeit, ihre Versprechen einzulösen.
Immer klarer wird auch, dass die Schweiz zunehmend in den Sog des Brexit gerät. Die EU-Kommission will mit den Briten bis im Oktober des kommenden Jahres eine politische Grundsatzerklärung aushandeln, in welchem Rahmen die künftige Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich stattfinden kann. Dass die Schweiz Zugang zum Binnenmarkt hat, obwohl sie weder EU-Recht automatisch übernimmt noch den Urteilen des Europäischen Gerichtshof unterstellt ist, ist für Brüssel dabei ein Unding. Die Integrität des Binnenmark- tes und die Überwachung der vier Freiheiten (Kapital, Güter, Dienstleistungen und Personenverkehr) durch den Europäischen Gerichtshof hat für die EU oberste Priorität.
Für Unmut sorgt in Brüssel anscheinend auch, dass Teile der Schweizer Politik auf einen für London gütlichen Ausgang der Brexit-Verhandlungen und eine eidgenössisch-britische Allianz spekulieren. Es helfe nicht besonders, dass vor allem die Briten auf EU-Ebene für die Schweizer Position lobbyieren, ist zu hören. So oder so: Für die EU muss sich die Schweiz allmählich entscheiden.