FLÜCHTLINGE: Das Schweizer Kreuz beruhigt Migranten

Der Migrationsstrom vom Süden reisst nicht ab. Gut 50 Personen überqueren im Tessin täglich die Schweizer Grenze. Sie zahlen den Schleppern Unsummen – auch weil sie nicht wissen, wie man einen Ticketautomaten bedient. Eine Reportage aus Mailand und Chiasso.

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Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
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Flüchtlings Repo (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Empfangszentrum Bahnhof Mailand betrieben von Progette Arca. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Flüchtlinge, die Asyl beantragen, werden vom Bahnhof direkt zum Empfangs- und Verfahrenszentrum für Asylbewerber gebracht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Empfangszentrum Bahnhof Mailand betrieben von Progette Arca: Es wurden Spielecken für Kinder eingerichtet und von der Hilfsorganisation Save the Children betreut. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Empfangszentrum Bahnhof Mailand. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))
Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))

Nach Stichkontrollen im Zug werden Verdächtige Reisende abgeführt und an der Grenzwachtstelle untersucht. (Bild: Nadia Schärli (Neue LZ))

Kari Kälin

Milano Centrale. Wenige 100 Meter hinter dem Hauptbahnhof führt ein Tunnel zum Eingang des Flüchtlingsempfangszentrums. Dass es hier so etwas gibt, wissen viele Mailänder gar nicht. Wenn man sie fragt, wo sich die Unterkunft befinde, reagieren die meisten mit einem Schulterzucken. Obwohl sie in ihrem Blickfeld liegt, wie sich später herausstellt.

Auf 500 Quadratmetern gibt es drei Aufenthaltsräume, Toiletten, eine Art Restaurant und Internetzugang. Im Juli haben die Stadt, die Armee und die italienische Staatsbahn den früheren Aufenthaltsraum für Bahnangestellte in ein Empfangszentrum für Flüchtlinge umfunktioniert. Vorher campierten sie zu Hunderten im Hauptbahnhof – keine gute Visitenkarte für die Hauptstadt der Lombardei. Unterdessen ­prägen wieder Touristen und krawattierte Geschäftsleute das Bild bei Milano Centrale. Und beim Eingang des fein herausgeputzten Bahnhofs werben zwei Ballerinen live für eine Ballettaufführung.

Normalität in Betonwänden

Weniger Eleganz versprüht das Empfangszentrum mit seinen kalten Betonwänden. Die Atmosphäre ist so prickelnd wie in einem Militärbunker. Und doch erleben hier die zahlreichen Flüchtlinge ein bisschen Normalität. Wenigstens müssen sie nicht mehr im Bahnhof umherirren, wenn sie in Mailand stranden.

In einer Spielecke werfen Kinder ein­ander Bälle zu, machen «Fangis», zeichnen an einem Tischchen Autos, Regenbogen, Fische, Blumen. «Sie sind unbeschwert und vergessen für ein paar Momente die Strapazen der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer», sagt eine Frau von der Organisation Save the children, die sich um die Kleinsten kümmert. Am Nachmittag registriert das Hilfswerk Progetto Arca jeweils die Flüchtlinge, klärt sie über Rechte und Pflichten auf und weist sie in Unterkünfte. Denn übernachten kann man im Empfangszentrum nicht. Aber die Sozialarbeiter wissen, wo es freie Betten hat. Bereits über 120 000 Menschen, die meisten davon Eritreer, sind in diesem Jahr übers Mittelmeer nach Italien gelangt. Dass dort nur die wenigsten ein Asylgesuch stellen, verwundert niemanden. Pro Tag erhalten sie während des Verfahrens lediglich ein Sackgeld von 2.50 Euro.

Bloss eine Zwischenstation

Anerkannte Flüchtlinge dürfen zwar sofort arbeiten. Wenn sie keine Stelle finden, müssen sie sich aber ohne staatliche Unterstützung durchschlagen. Und Jobs sind im von Arbeitslosigkeit geplagten Italien rar. So bleibt Mailand bloss eine Zwischenstation. Von dort aus organisieren die Migranten die Weiterreise in den Norden, auch in die Schweiz. Dafür brauchen sie die Hilfe von Schleppern. Denn ohne gültiges Zugticket läuft gar nichts. Schwarzfahren ist unmöglich, die italienische Bahn kontrolliert jeden Reisenden, was den Menschenschmugglern in die Hände spielt. Die meisten Eritreer sprechen nur Tigrinja, damit wird die Bedienung des Ticketautomaten zu einer unüberwindbaren Hürde. Die Migranten wissen häufig nicht so genau, wo sie überhaupt hinmüssen. Como oder Chiasso? Wo endet Italien? Wo beginnt die Schweiz? Die Unkenntnis treibt die Migranten in die Arme der Schlepper, die als vermeintliche Wohltäter in Erscheinung treten. Häufig handelt es sich um Menschen mit der gleichen Ethnie. Sie haben sogar oft einen legalen Aufenthaltsstatus, der es ihnen erlaubt, die illegalen Dienstleistungen anzupreisen. Für ein Ticket von Mailand nach Chiasso (6 bis 15 Franken) pressen sie den Flüchtlingen 50 bis 80 Euro ab. Sitzen die Abgezockten einmal im Zug, erreichen sie Chiasso in weniger als einer Stunde.

Kundenfreundliche Behörden

Rund 100 Züge überqueren dort täglich die Grenze. Die Schweizer Grenzwächter können nur stichprobenweise kontrollieren, vielleicht 3 bis 5 Prozent der Passagiere. Personen ohne gültige Papiere werden durch einen Korridor in ein Gebäude beim Bahnhof geführt. Sie kriegen ein Mineralwasser ohne Kohlensäure, bei Bedarf einen Riegel. Merkblätter in zahlreichen Sprachen – darunter Tigrinja, Somalisch und Arabisch – klären sie über Rechte und Pflichten im Asylverfahren auf. Bis Ende August hat das Grenzwachtkorps (GWK) an der Südgrenze im Tessin 8272 illegale Aufenthalter registriert. Derzeit treffen täglich rund 50 Personen ein, gegen das Wochenende steigt die Zahl tendenziell an. Der Migrationsdruck vom Süden hat nicht nachgelassen. Er ist grösser als im Vorjahr. Bloss das mediale Interesse hat sich auf die dramatischen Ereignisse auf der Balkan-Route verlagert.

An der grünen Grenze läuft nichts

Rund 90 Prozent der irregulären Migranten, die das GWK an der Südgrenze aufgreift, reisen bequem im Zug in die Schweiz. Der Rest wird von Schleppern mit dem Auto befördert. Mühsam in der Nacht die grüne Grenze überqueren, über Bäche waten, durch Wälder irren, auf verschlungenen Wegen die Kontrollen umgehen: Diese Zeiten sind vorbei.

«Wir haben hier keine Krisensituation. Die Lage ist unter Kontrolle», sagt Davide Bassi, Mediensprecher des GWK Tessin, das wir an diesem Dienstagnachmittag begleiten dürfen. Patrick Benz, Chef Fachbereich Migration im GWK, stimmt zu. «Die Asylsuchenden verhalten sich uns gegenüber in der Regel korrekt», sagt er. In der Tat wirkt die Situation entspannt, als die Grenzwächter am frühen Nachmittag die Personalien von fünf Afrikanern aufnehmen. Etwas unangenehm wird es bloss für einen Kubaner mit norwegischem Pass, der in einem Zigarettenpäckchen ein wenig Marihuana versteckt hat. Auch um solche Fällen kümmern sich die Grenzwächter.

Die Männer aus Eritrea, Somalia und Gambia sind gut gekleidet, wirken fit und freundlich. Seelenruhig füllen sie Personalien aus, geben ihre Fingerabdrücke, bevor im Empfangszentrum des Staatssekretariates für Migration (SEM), direkt neben dem Bahnhof, ihr Asylgesuch entgegengenommen wird.

Einzig ein Mann aus Nigeria, ein abgewiesener Asylbewerber, wirkt aufgeregt. Am Morgen ist er mit dem Flugzeug von Zürich nach Mailand-Malpensa ausgeschafft worden. Am gleichen Nachmittag steht er schon wieder in Chiasso und will den Flüchtlingsstatus. «Die Italiener haben mir meine Dokumente weggenommen», sagt er auf Englisch. Doch alles Lamentieren und Gestikulieren hilft nichts. Die Grenzwächter spedieren ihn schnurstracks zurück nach Italien.

In den meisten Fällen verläuft alles problemlos. Sobald die Asylsuchenden realisierten, dass sie sich in der Schweiz befänden, seien sie sehr kooperativ, sagen die Grenzwächter. «Wenn sie sich noch in Italien wähnen, ist dies nicht immer der Fall», sagt Pat­rick Benz. Wer seine Fingerabdrücke dort registrieren lässt, muss damit rechnen, wieder zurückgeschafft zu werden. Was die Migranten um jeden Preis verhindern wollen.

Tomaten gepflückt

Manchmal bringt ein Zug ganze Gruppen von Migranten nach Chiasso. An diesem Nachmittag bleibt der grosse Andrang aus. Um 15.12 Uhr kontrollieren die Grenzwächter fünf weitere Afrikaner, alle werden ein Asylgesuch in der Schweiz deponieren.

Ein junger Senegalese spricht bemerkenswert gut Italienisch. Er habe in Sizilien während zweier Jahre Tomaten und Mandarinen gepflückt, sagt er. Jetzt steht er ohne Job da. Niemand weiss, wie sich die Migra­tionsströme in den nächsten Monaten genau entwickeln werden.

Mehrere EU-Staaten, darunter Deutschland, haben wieder Grenzkontrollen eingeführt. Ob die Flüchtlinge von der Balkan-Route deshalb vermehrt die Schweiz anpeilen, ist offen. Klar ist nur: Der Ansturm auf der Mittelmeer-Route nach Italien hält an. Täglich stranden Bootsflüchtlinge in Lampedusa. Schlepper schleusen sie gegen Unsummen in den Norden.

Der Menschenschmuggel ist eine Wachstumsbranche. Und genau dieses Milliardenbusiness bekämpft das GWK schwerpunktmässig.

«Die Schlepperorganisationen funktionieren wie Betriebe», sagt Patrick Benz. In vielen Ländern verfügen sie über so etwas wie Filialen. Die Fäden ziehen Hintermänner, das Netzwerk ist eng gestrickt. Vielleicht ertappen die Grenzwächter häufig nur die kleinen Fische, aber dies tun sie erfolgreich: 260 mutmassliche Schlepper haben sie in der ganzen Schweiz bis Ende August gefasst, gleich viele wie in der Vorjahresperiode und mehr als während des ganzen Jahres 2013.

Flüchtlinge als Schleuser?

Bei den Menschenschmugglern handelt es sich am häufigsten um Kosovaren (46), gefolgt von Eritreern (33) und Schweizern (19), die wiederum oft ­einen Migrationshintergrund haben.

An der Südgrenze wurden bis Ende August 56 Schlepper erwischt, die meisten waren Eritreer (16).

Es gibt Anzeichen, dass anerkannte Flüchtlinge ins lukrative Schleppergeschäft eingestiegen sind. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat die Kantone deshalb schon im letzten Winter dazu aufgefordert, dem SEM zu melden, wenn sie Strafverfahren gegen anerkannte Flüchtlinge einleiten. Und vor knapp drei Wochen hat das Bundesamt für Polizei (Fedpol) angekündigt, eine Task-Force werde jetzt verstärkt gegen Schlepperbanden vorgehen. Die Arbeitsgruppe besteht aus der Kantonspolizei Tessin, dem Grenzwachtkorps und aus Fedpol-Mitarbeitern.

Davon wissen die Kinder im Empfangszentrum in Mailand nichts. Ohne die Menschenschmuggler würden sie und ihre Eltern vermutlich in der Lombardei stecken bleiben. Und da nimmt man einen überrissenen Preis für ein Zugticket in Kauf, wenn man als Gegenleistung in Chiasso landet.

EU-Parlament beschliesst Verteilung – und erhöht den Druck

Flüchtlingskrise sda. Die EU-Staaten nehmen einen erneuten Anlauf auf Spitzenebene. Am Mittwoch treffen sich die Staats- und Regierungschefs zu einem Sondergipfel. Das teilte EU-Ratspräsident Donald Tusk über den Kurzmitteilungsdienst Twitter mit. Für Dienstag ist ein Krisentreffen der EU-Innenminister zum Thema angesetzt.

Das EU-Parlament stimmte gestern der Verteilung von 120 000 Flüchtlingen in Europa zu. Mit der Abstimmung via Dringlichkeitsverfahren wollte das Parlament die EU-Innenminister dazu bringen, sich endlich auf einen Verteilmechanismus zu einigen.

7000 Flüchtlinge in Kroatien

Nach der Schliessung der ungarisch-serbischen Grenze verlagert sich der Flüchtlingszug zusehends nach Kroatien. Über 7000 Menschen kamen laut kroatischen Angaben seit der Grenzschliessung in Ungarn bis gestern in das Land. In Tovarnik an der Grenze zu Serbien warteten gestern bis zu 5000 Menschen darauf, einen Zug in die Hauptstadt Zagreb zu bekommen, wie ein Sprecher des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sagte. Helfer des Roten Kreuzes verteilten Wasser und Essen an die in der Sonne wartenden Menschen. Der UNHCR-Sprecher sagte, zwar kämen Züge an, doch könnten diese nicht alle Flüchtlinge mitnehmen.

Doch kein Transitland

Kroatiens Ministerpräsident Zoran Milanovic warnte, dass die Kapazitäten Kroatiens zur Aufnahme und Registrierung von Migranten begrenzt seien. Innenminister Ranko Ostojic sagte, Schutzsuchenden werde die Weiterfahrt zu Registrierungszentren rund um Zagreb ermöglicht.

Ausländer, die kein Asyl beantragen wollten, würden als illegale Immigranten angesehen. «Als wir erklärt haben, wir würden Korridore einrichten, meinten wir einen Korridor von Tovarnik nach Zagreb», sagte Ostojic. Noch am Vortag waren Behörden davon ausgegangen, Kroatien sei nur Transitland für die Flüchtlinge. Nach Deutschland und Österreich kündigte auch Slowenien, das im Gegensatz zu Kroatien zum Schengenraum gehört, die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen an. Das Land auf der Route nach Österreich und Deutschland will Asylbewerber beherbergen oder zurückschicken.

Lage in Röszke beruhigt

An der ungarisch-serbischen Grenze bei Röszke beruhigte sich gestern die Lage nach Ausschreitungen vom Vortag zwischen Flüchtlingen und Polizisten. Rund 400 Flüchtlinge warteten am Morgen am Übergang zwischen Horgos in Serbien und Röszke in Ungarn, doch war die Situation ruhig.
Dafür wird nun das Verhalten der ungarischen Regierung in der Flüchtlingskrise angeprangert. Unverhältnismässige Gewalt gegenüber Flüchtlingen und Migranten, Angriffe auf Journalisten sowie eine fremdenfeindliche und antimuslimische Haltung: Dies wirft der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte der ungarischen Regierung vor. Budapest verletze im Umgang mit ankommenden Flüchtlingen das Völkerrecht, sagte Said Raad al-Hussein. Bilder von Tränengaseinsätzen und Wasserwerfern gegen Frauen und Kinder an der ungarischen Grenze zu Serbien seien schockierend. Die Bitte um Asyl und der irreguläre Grenzübertritt seien noch kein Verbrechen. Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte forderte die EU auf, endlich eine gemeinsame Linie bei der Lösung der Flüchtlingskrise zu finden.

Deutscher Migrationschef tritt ab

Derweil hat der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Deutschland seinen Rücktritt bekannt gegeben. Wegen eines Rekordstaus bei den Asylanträgen wurde Manfred Schmidt stark kritisiert. Ende August stauten sich dort mehr als 270 000 Anträge. Wie das deutsche Innenministerium in Berlin gestern mitteilte, bat Schmidt «aus persönlichen Gründen» darum, von seinen Aufgaben entbunden zu werden.

Bei 53 Prozent der über 276 000 Altfälle steht eine Entscheidung über den Asylantrag seit einem halben Jahr aus, 25 Prozent der unbearbeiteten Asylanträge wurden sogar schon vor mehr als einem Jahr gestellt. Derzeit werden vorrangig Anträge aus dem Westbalkan bearbeitet, die nur geringe Aussichten auf Anerkennung haben.