Das Dublin-System stosse im Sommer an seine Grenzen, sagt Pius Betschart, Vizedirektor des Staatssekretariats für Migration. Das Asylwesen funktioniere aber.
Interview Sermîn Faki
Pius Betschart, die SVP wirft Ihnen Asylchaos vor. Tatsächlich kommen immer mehr Gesuchsteller, es fehlt an Unterkünften. Ist das Boot nicht doch voll?
Pius Betschart*: Derzeit kommen sehr viele Asylsuchende, und das wird über den Sommer so bleiben. Das Bild vom vollen Boot hat dennoch nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres lagen die Asylgesuche unter den Zahlen des Vorjahres. Dann sind die Gesuche abrupt gestiegen, kurzfristig hatten wir rund 1000 Gesuche pro Woche. Aber die Situation ist unter Kontrolle. Das gilt nach meinen Informationen auch für unsere Partner in den Kantonen und Gemeinden.
Die öffentliche Wahrnehmung ist eine andere. Die SVP sagt, es brenne im Volk lichterloh.
Betschart: Natürlich führt der Anstieg zu Sorgen in der Bevölkerung. Aber Gemeinden, Kantone und der Bund haben vorausschauend geplant. Seit Mai konnte der Bund seine Unterbringungskapazitäten um mehrere hundert Plätze auf heute 2900 erhöhen. Wir bewältigen die Situation also in unseren Regelstrukturen und sind damit in einer völlig anderen Situation als Deutschland, Österreich und Ungarn, die Zeltlager aufstellen müssen. Bei uns machte sich der Anstieg vor allem im Empfangszentrum Chiasso bemerkbar, wo die meisten Asylsuchenden eintreffen. In Zusammenarbeit mit Kanton und Gemeinden wurde die schwierige Situation aber mustergültig bewältigt. Wir sind den Gemeinden in der Schweiz generell sehr dankbar für ihre Unterstützung.
Unterstützung? In vielen Gemeinden gibt es Proteste gegen Asylzentren!
Betschart: Natürlich gibt es Reibungen, und ich habe Verständnis für aufgeregte Reaktionen. Bürger und Gemeinden sollen sich einbringen und Bedingungen definieren, unter denen sie bereit sind, ein Zentrum zu eröffnen. Aber verhindern zu wollen, dass Bund, Kantone und Gemeinden ihrem gesetzlichen Auftrag nachkommen, ist kontraproduktiv. Was ich nicht verstehe, ist, wenn sich diese Reaktionen pauschal gegen Menschen richten, die Schutz suchen. Aufrufe zum Widerstand sind nicht hilfreich, denn sie können falsch verstanden werden. Schauen Sie sich die Situation in Deutschland an: Dort kommt es zu Angriffen auf Asylsuchende und Anschlägen auf Asylunterkünfte. Das darf es nicht geben.
Aber ist der Bund nicht selbst schuld an den hohen Zahlen? Nehmen wir das Beispiel Eritrea. Die Schutzquote liegt bei 85 Prozent. Damit ziehen Sie Asylsuchende aus diesem Staat an.
Betschart: Wir stellen nicht einfach einen Blankocheck aus, sondern prüfen jeden einzelnen Fall genau und kommen zum Schluss, dass die grosse Mehrheit der Eritreer nach dem Schweizer Gesetz schutzbedürftig ist. Unsere Anerkennungsquote liegt übrigens genau im Durchschnitt der Quoten der meisten europäischen Staaten.
Sind Sie überfordert mit den vielen Gesuchen?
Betschart: Nein. Aber wir mussten die Verfahren für die Eritreer zurückstellen. Momentan werden Asylsuchende aus Eritrea registriert und die Dublin-Fälle behandelt. Die anderen Eritreer, die jetzt kommen, müssen also damit rechnen, dass wir ihr Gesuch erst im nächsten Jahr entscheiden können. Abgesehen davon führen wir unsere Asylverfahren normal weiter und konzentrieren uns gemäss unserer Strategie auf Dublin-Fälle und Gesuche aus Ländern mit niedriger Schutzquote. So entlasten wir das System nachhaltig.
Unser Nachbar Österreich hat kaum Eritreer. Warum?
Betschart: Österreich hat wenige Eritreer, aber dafür sehr viele Afghanen, Tschetschenen und Kosovaren. Das hängt damit zusammen, dass Österreich an der Balkanroute liegt, wir hingegen an der zentralen Mittelmeerroute, die viele Eritreer benutzen.
Doch die Leute kommen nicht direkt, sondern aus Italien, einem sicheren Drittstaat.
Betschart: Ja, das sind irreguläre Weiterwanderungen aus überlasteten Staaten. Darum braucht es einen europäischen Verteilschlüssel, der solche Überlastungen verhindern würde.
Damit geben Sie zu, dass Dublin nicht funktioniert.
Betschart: Dublin funktioniert im Grossen und Ganzen sehr gut und ist für die Schweiz sehr wichtig. Im europäischen Vergleich können wir Dublin-Entscheide überdurchschnittlich gut durchsetzen und deutlich mehr Personen überstellen, als wir übernehmen müssen. Aber bereits im letzten Sommer hat sich gezeigt, dass Italien die Ankommenden nur noch sehr limitiert registriert, wenn es durch die zentrale Mittelmeerroute stark belastet wird. Im Sommer, das gebe ich zu, funktioniert das System mit Italien nur eingeschränkt.
Die SVP fordert ein Asylmoratorium für ein Jahr. Wäre das keine Lösung, um die Situation zu entspannen?
Betschart: Das würde faktisch nichts bringen. Die Leute würden ja trotzdem zu uns kommen, und wir müssten Ersatzmassnahmen treffen, zum Beispiel mehr Personen vorläufig aufnehmen.
Eritreer kann man also auf gar keinen Fall zurückschicken?
Betschart: Kaum. Kein westeuropäisches Land führt Rückschaffungen nach Eritrea durch, weil wir nicht sicher sind, dass Rückkehrer nicht gefährdet sind. Wir haben im Mai im Auftrag der Europäischen Migrationsagentur EASO einen eingehenden Bericht zur Situation in Eritrea erarbeitet. Demnach herrscht in Eritrea ein hoher Grad an Willkür, es gibt kaum rechtsstaatliche Garantien.
Es gibt auch andere Berichte. Die Dänen sagen, dass die Situation nicht halb so schlimm ist wie dargestellt.
Betschart: Der dänische Bericht wurde sehr kontrovers beurteilt. Aus unserer Sicht sind seine Erkenntnisse zu wenig gesichert, um die Grundlage für eine Überprüfung unserer Praxis zu bilden.
Allerdings war Ihr Kollege, Vizedirektor Urs von Arb, Anfang Jahr in Eritrea und konnte sich ein Bild machen. In seinem Bericht steht, dass Diplomaten den Dänen zustimmen.
Betschart: Der Besuch hatte nicht das Ziel, unsere Asylpraxis zu überprüfen. Mein Kollege war in Eritrea, um mit Regierungsstellen zu reden und herauszufinden, ob sich das Regime öffnet, und um Möglichkeiten einer Zusammenarbeit abzuklären. Niemand im Staatssekretariat, auch Urs von Arb nicht, ist der Meinung, dass es gegenwärtig eine Faktengrundlage gibt, um die Asyl- und Wegweisungspraxis anzupassen. Wenn das so wäre, hätten wir sehr rasch eine Lagebeurteilung mit dem Aussendepartement vorgenommen. Das ist nicht passiert.
Es gibt viele Spekulationen um den Bericht. Warum legen Sie ihn nicht einfach offen, statt sich vorwerfen zu lassen, Sie hielten einen unliebsamen Bericht geheim?
Betschart: Das können wir nicht. Im Kontakt mit ausländischen Regierungen und Diplomaten müssen wir garantieren, dass die Gespräche und daraus resultierende Informationen vertraulich behandelt werden. Aber noch mal: Die Überprüfung der Asylpraxis der Schweiz war nicht das Ziel der Reise. Es gibt deshalb im Reisebericht auch keine Aussagen mit Bezug auf die Schweizer Flüchtlingspolitik.
Kommen wir zurück zu den Problemen. Viele Flüchtlinge landen in der Sozialhilfe. Das können wir uns auf die Dauer nicht leisten.
Betschart: Die Kosten in der Schweiz sind hoch. Flüchtlinge ohne Sprachkenntnisse und mit geringen Qualifikationen haben es auf dem Arbeitsmarkt schwer, das führt zu einer erheblichen Belastung für das Sozialsystem. Umso wichtiger sind Integrationsprogramme, und auch bei der Umsetzung des Zuwanderungsartikels ist ausdrücklich vorgesehen, das Potenzial der anerkannten Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen für den inländischen Arbeitsmarkt besser zu nutzen. Wir sollten aber nicht vergessen, dass wir es weltweit mit der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben. Die Schweiz soll hier ihren Beitrag leisten, und der hat seinen Preis. Deshalb hat der Bundesrat am 6. März erneut bekräftigt, dass das primäre Ziel die Hilfe vor Ort ist. Die Schweiz unterstützt den Libanon, Jordanien und die Türkei, sodass Flüchtlinge aus Syrien möglichst nicht gezwungen sind, weiter zu fliehen.
Haben Sie kein Verständnis für die alleinerziehende Mutter, die ihrem Sohn kein Smartphone kaufen kann und es stossend findet, wenn sie Flüchtlinge damit sieht?
Betschart: Natürlich ist es auffällig, wenn ein Flüchtling in Marken-Turnschuhen herumläuft und das neuste Handy hat. Ich verstehe, wenn sich die Leute dann nerven. Aber auch da muss man genau hinschauen. Wenn jemand zu Unrecht Sozialhilfe bezieht, ist das stossend, und die verantwortlichen Stellen müssen konsequent durchgreifen. Auf der anderen Seite ist es verständlich, dass ein Eritreer, dessen Familie auf der halben Welt verstreut ist, versucht, Kontakt zu halten. Wir würden das genauso machen.
Aber wie kann es sein, dass angeblich verfolgte Eritreer in ihre Heimat reisen, um Ferien zu machen?
Betschart: Auch hier muss man genau unterscheiden. Es gibt regelmässige Reisebewegungen nach Eritrea. Dabei handelt es sich aber in erster Linie um Menschen, die schon sehr lange hier sind und zum Teil das Schweizer Bürgerrecht haben. Wenn sie dann noch Regierungsanhänger sind, können sie problemlos hin- und herreisen und müssen uns auch nicht nach einer Bewilligung fragen. Anerkannte Flüchtlinge haben gesetzlich Anspruch auf einen Flüchtlingspass, mit dem sie reisen können. Reisen in das Heimatland sind für sie aber explizit ausgeschlossen. Wenn jemand das trotzdem tut und wir davon erfahren, ergreifen wir Sanktionen und entziehen den Schutzstatus. Vorläufig Aufgenommene wiederum erhalten nur in klar definierten Ausnahmefällen ein Reisepapier. Die Praxis wurde 2012 verschärft, und im Jahr 2013 haben gerade einmal 3,2 Prozent aller vorläufig Aufgenommenen eine Reisebewilligung erhalten.
Es gibt Gerüchte, dass das Hunderte Leute machen. Gehen Sie dem nach?
Betschart: Selbstverständlich unternehmen wir alles, um solchen Behauptungen nachzugehen. Einen rechtsgenüglichen, konkreten Beweis zu finden, ist aber nur selten möglich.
* Pius Beschart ist seit März 2013 Vizedirektor des Bundesamtes für Migration und Leiter des Direktionsbereichs Asyl.