GESUNDHEIT: Die beste Medizin kann Nichtstun sein

Ein Berner Hausarzt plädiert dafür, dass es im Krankheitsfall auch die Option des Nichtstuns geben soll. Das verlangt nach einigen Erklärungen. Hier sind sie.

Interview Hans Graber Interview Hans Graber
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Auf eine Operation oder andere aufwendige Behandlungen zu verzichten, kann letztlich dem Wohl des Patienten dienen. Aber er muss selber mit dem Nichthandeln einverstanden sein. (Bild: Archiv / Neue LZ)

Auf eine Operation oder andere aufwendige Behandlungen zu verzichten, kann letztlich dem Wohl des Patienten dienen. Aber er muss selber mit dem Nichthandeln einverstanden sein. (Bild: Archiv / Neue LZ)

Herr Gerber, was meinen Sie genau mit diesem Nichtstun?

Beat Gerber*: Als rein klassisch ausgebildeter und praktizierender Arzt bin ich täglich mit den Herausforderungen einer Landpraxis konfrontiert. Da «tut man ständig etwas», man handelt. Das ist der Normalfall, und an dem wird sich nichts ändern. Es gibt aber Situationen, da ist Nichthandeln besser als Handeln: Genau das meine ich mit situativem Nichtstun, das ist mein Thema. Einerseits kann – rein theoretisch – das Handeln ja auch schaden, und andererseits zeigt sich rein intuitiv, dass Nichthandeln auch ein Wunsch des Patienten sein kann. Das ist übrigens gar nicht so selten. Es geht mir also um eine philosophische Auseinandersetzung mit der Option des Nichthandelns oder des Nichtstuns in der Medizin.

Weshalb soll diese Option offen bleiben?

Gerber: Es gibt mindestens zwei argumentative Begründungen: Erstens gibt es den normativen Aspekt: Es besteht eine Verpflichtung zum Nichtstun, wenn situativ das Nichtstun für den Patienten die bessere Lösung ist. Zweitens gibt es den Aspekt des Patientenrechts, nach welchem wir Ärzte zum Unterlassen von unnötigem medizinischem Dazutun ebenfalls verpflichtet sind. Dies, um damit dem Patienten unersetzbare Freiräume zu schaffen, beispielsweise Zeit für die Krankheitsverarbeitung oder gegebenenfalls für die Sterbevorbereitung.

In der Medizin wird dank technischen Möglichkeiten und neuen Medikamenten immer mehr machbar. Liegen Sie da nicht quer in der Landschaft?

Gerber: Ich denke nicht. Das Nichtstun soll für den Patienten ja eben ein Mehrwert sein. An der Stärke und am Erfolg unserer modernen Medizin ändert sich dabei gar nichts. Als überzeugter Schulmediziner sorge ich dafür, dass meine Patienten am Nutzen der heutigen Medizin teilnehmen – aber sie sollen gleichzeitig wissen, dass es nebst dem medizinischen noch einen menschlichen Aspekt in der ärztlichen Betreuung gibt. Und der bedeutet hier Schutz vor nicht notwendigen oder gar kontraproduktiven technischen Interventionen.

Stecken hinter der Option Nichtstun auch wirtschaftliche Überlegungen?

Gerber: Nein, überhaupt nicht. Situatives Nichtstun muss ganz und gar zum ärztlichen Handeln gehören – weil es dann im Sinne und im Interesse des Patienten ist. Im Gesundheitswesen sind ökonomische Überlegungen wichtig und notwendig, aber sie sind bei meiner Interpretation des Nichtstuns sicher nicht das Thema.

Sie haben es mit dem Wort Sterbevorbereitung angetönt: Wenn man Nichtstun hört, denkt man als Laie sofort an «nichts mehr tun (können)». Zum Beispiel eben dann, wenn alle Therapiemöglichkeiten einer schweren unheilbaren Krankheit weit gehend ausgeschöpft sind.

Gerber: Diese Sichtweise ist zu eng. Beim situativen Nichtstun geht es zwar auch um unheilbare Krankheiten, aber nicht nur. Auch bei leichten und mittelschweren Krankheiten gibt es Situationen, in denen das Nichtstun für den Patienten die bessere Option sein kann. Wenn wir Ärzte zum Beispiel Untersuchungen verordnen, die sehr unangenehm, schmerzhaft oder sogar riskant sind und diese Untersuchungen keine unmittelbaren therapeutischen Konsequenzen für den Patienten haben, dann sind sie zu unterlassen. Oder wenn ein bestimmtes Beschwerdebild und die dagegen eingesetzte Therapie in keinem Verhältnis sind, dann ist auch diese Therapie zu unterlassen.

Kann also Nichtstun schon am Anfang einer Krankheit stehen?

Gerber: Für viele, wenn nicht gar für die meisten Krankheiten gilt, dass sie rechtzeitig und verhältnismässig abgeklärt werden und falls notwendig, dass eine entsprechende Behandlung nach den heute gängigen Therapierichtlinien eingeleitet wird. Nun gibt es aber Beschwerden, die erstens nicht der Anfang einer schwereren Krankheit sind und zweitens auch ohne ärztliche Intervention und medikamentöse Therapie mit der Zeit von selber verschwinden. Zudem kann trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen noch eine gute Lebensqualität vorhanden sein, die auch durch eine aufwendige Therapie oder eine Operation nicht unbedingt verbessert wird. In solchen Fällen ist Nichtstun sicher angebracht.

Sie sagen: Nichtstun dann, wenn es für den Patienten die bessere Variante ist als das Tun. Wer kann sagen, ob das Nichtstun die bessere Variante ist?

Gerber: Zugegeben, es ist gelegentlich nicht einfach abzuschätzen, wann interveniert werden muss und wann nicht – mit dieser Schwierigkeit müssen wir leben. Aber Nichtstun muss ja nicht ein in Stein gemeisselter Entscheid sein, er kann jederzeit revidiert werden. Mir geht es darum, die Option des situativen Unterlassens als eine dem situativen Tun ebenbürtige Entscheidungsmöglichkeit anzuerkennen. Diese Variante kann und muss diskutiert werden mit dem Patienten, auch wenn das Resultat dieser Diskussion letztlich dann doch mit dem Tun endet – schlicht und einfach weil das Tun in dieser Situation notwendig ist.

Nichtstun bleibt aber ein Wagnis.

Gerber: Nichtstun ist immer ein gewisses Wagnis, grundsätzlich, nicht nur in der Medizin. Aber auch das Tun ist ein Wagnis, gilt doch in der Medizin auch das Diktum des «primum nil nocere» (zuerst einmal nicht schaden). Wir dürfen als Ärzte auch nicht schaden. Und genau darum geht es beim Unterlassen von medizinischen Handlungen.

Kann Nichtstun nicht ganz fatale bis tödliche Folgen haben?

Gerber: Natürlich kann es das. Eine Art Glückspiel darf das Nichtstun deshalb nie sein – so wie auch das Tun kein Glückspiel sein darf. Aber ich verstehe sehr gut, was Sie meinen. Mit dem Nicht-Handeln verbindet man automatisch die Möglichkeit des folgenschweren Unterlassens, und ein solches darf unter keinen Umständen passieren. Nichtstun kann tatsächlich ein gewisses Wagnis sein, deshalb müssen wir vorsichtig und aufmerksam damit umgehen – aber das gilt auch für das Tun.

Ein Patient, dem ein Arzt die Option Nichtstun unterbreitet, könnte vermuten, dass er als «hoffnungsloser Fall» gilt, dass er sterbenskrank oder ein «Psycho» ist. Glauben Sie, dass der überhaupt fähig ist, Ihre Gedanken aufzunehmen?

Gerber: Der Aspekt und die Option des situativen Nichtstuns sind meiner Meinung nach nicht besonders schwierig zu verstehen. Schwieriger ist dagegen, dem Patienten klar zu machen, dass für ihn in einem bestimmten Fall beispielsweise eine weitere Chemotherapie einerseits belastend ist und andererseits wohl kaum zu einer Verlängerung seines Lebens führen wird. Gerade dieser Erfahrungsschatz ist es, der uns Ärzten gebietet, dem Patienten die Möglichkeit des Nichtstuns anzubieten. Die Entscheidung liegt letztlich aber immer bei ihm. Entschliesst er sich trotzdem für das Tun, dann ist das Tun geboten.

Gibt es seitens des Patienten nicht die weit verbreitete Grundhaltung, dass im Falle einer Krankheit etwas gemacht werden muss? Schliesslich bezahlt er doch viel Krankenkasse.

Gerber: Sicher gibt es diese Grundhaltung. Und der Patient hat auch das Anrecht auf eine korrekte und vollständige Untersuchung und Behandlung. Dafür hat er regelmässig seine Krankenkassenprämien bezahlt, und die sind ja bekanntlich nicht tief. Nun stellt sich aber die Frage, ob der Patient wirklich etwas will, das er gar nicht braucht, oder mit dem es ihm gegebenenfalls sogar schlechter geht. Heute gilt nicht mehr das paternalistische, sondern das partnerschaftliche Arzt-Patienten-Modell oder sogar das Auftragsmodell (Kundenmodell). Der Patient ist also emanzipiert, mündig und autonom, und er wird mitreden, wenn es darum geht, Entscheidungen über ihn zu treffen. Wenn es uns Ärzten gelingt, den Patienten auf die gelegentlich doch sehr attraktive Variante des vorläufigen Abwartens und Beobachtens aufmerksam zu machen und ihn dafür zu gewinnen, dann legt er erfahrungsgemäss sehr häufig keinen Wert mehr auf verzichtbare Untersuchungen und Behandlungen.

Und wenn er trotzdem darauf beharrt, dass man «etwas macht»?

Gerber: Dann bin ich der Meinung, dass man «etwas tut, das wirklich Sinn macht», gegebenenfalls auch eine fachärztliche Abklärung. Der Patient ist dann beruhigt, und es geht ihm häufig auch besser. Letztlich ist das Ziel, dass es dem Patienten besser geht, meistens damit erreicht. Situatives Nichtstun soll auch situativ eingesetzt werden.

Möglicherweise das grösste Problem mit dem Nichtstun hat vermutlich der Arzt selber. Darf er aus ethischer Sicht überhaupt nicht handeln?

Gerber: Die Aufgabe des Arztes ist es, Kranke zu untersuchen, Diagnosen zu stellen und adäquate Therapien einzuleiten. Das ist der Normalfall, und im Normalfall gilt das Tun, das Handeln. Aber: Zum Nichtstun verpflichtet sind wir immer dann, wenn das Nichtstun für den Patienten die bessere Option ist, und immer dann, wenn dies dem Wunsch des Patienten entspricht. Der Arzt darf nicht nur, er muss aus ethischen Gründen dem Nicht-Handeln den Vortritt lassen, wenn dies im Sinne des Patienten ist.

Nichts tun heisst für den Arzt oft auch: weniger verdienen. Glauben Sie, dass er das in Kauf nimmt?

Gerber: Wenn wir bemüht sind, die Medizin im Sinne des Patienten zu gestalten und dabei Nichtstun als wertvolle und berechtigte Option anzuerkennen, dann müssen wir davon ausgehen, dass wir Ärzte uns in jeder Situation primär für das Patientenwohl, und erst sekundär auch für das eigene Wohl entscheiden. Mindestens in unserer westlichen Welt und besonders in der heutigen Zeit besteht in der Gesundheitsversorgung eine grosse Transparenz, und es ist im Interesse jedes Arztes und jedes Spitals, nicht nur gesunde, sondern auch zufriedene Patienten zu haben.

Nichtstun dürfte auch heissen: viel Zeit aufwenden für Gespräche. Aber im Wartezimmer sind noch 20 Patienten. Wie löst man dieses Dilemma?

Gerber: Dieses Dilemma ist wohl kaum zu lösen. Das Gespräch mit dem Patienten ist ein wesentlicher Teil der Sprechstunde, daher auch der Name ... Ich denke, dass dies auch unabhängig von der Option des situativen Nichtstuns gilt. Aber es ist sicher so, dass die Option des Tuns dem Normalfall entspricht und deshalb primär das Thema sein muss. Und erst jetzt wird auch die Variante des Nichtstuns angesprochen, mit all ihren Facetten. Und erst jetzt kann sich der Patient ein vollständiges Bild von all den zur Auswahl stehenden Optionen machen. Und das braucht effektiv Zeit.

Hinweis

* Dr. med. Beat Gerber (62) ist Facharzt für Allgemeine Medizin in Wattenwil BE. Seine Arbeit über die Option des situativen Nichtstuns in der Medizin machte er im Rahmen einer CAS-Qualifikationsarbeit für das Nachdiplomstudium in Philosophie und Medizin der Universität Luzern. Kontakt: beat.gerber@hispeed.ch