Kommentar
Ein krimineller Ausländer, der in Strassburg gegen die Schweiz obsiegt: Ein solcher Fall schlug 2013 hohe Wellen. Die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gaben damals einem nigerianischen Drogenhändler Recht, den die Schweiz ausgewiesen hatte. Die Strassburger Richter pfiffen die Schweizer Behörden zurück: Sie sahen das Recht des Nigerianers auf Familienleben verletzt, weil er bei einer Ausweisung von seinen Kindern getrennt werde. Der Entscheid sorgte in der Schweiz für Unverständnis.
Dieses Urteil ist ein Lieblingsbeispiel der SVP, die mit ihrer Selbstbestimmungsinitiative auf die «fremden Richter» zielt. Der aktuelle Fall des kriminellen Mazedoniers hätte erneut ein Steilpass für die SVP werden können. Doch die Richter stützten diesmal den Schweizer Entscheid. Das Recht auf Familienleben sei nicht verletzt, hiess es aus Strassburg. Das zeigt: Die Richter beweisen durchaus Augenmass – auch wenn einzelne Urteile daran zweifeln lassen. Den Schweizer Entscheid zum Schwimmunterricht für muslimische Schülerinnen stützten die Strassburger Richter ebenfalls.
Bei aller Polemik um «fremde Richter» geht gern vergessen, wie selten die Schweiz gerügt wird – im Schnitt haben 15 von 1000 Beschwerden Erfolg. Daher ist es falsch, wenn die SVP oder die britische Premierministerin Theresa May wegen aufsehenerregender Einzelfälle den Gerichtshof für Menschenrechte als solchen in Frage stellen. Selbstverständlich muss Kritik erlaubt sein, denn fragwürdige Urteile, wie jüngst jenes gegen die IV-Detektive, gibt es zweifellos. Auch die lange Dauer der Verfahren ist stossend, wie der aktuelle Fall des Mazedoniers unschön aufzeigt. Pauschale Verunglimpfungen des Gerichtshofs aber sind fehl am Platz.
Maja Briner