Auf die Schweizer Lehrerinnen und Lehrer wartet die nächste grosse Herausforderung: Tausende ukrainischer Kinder dürften in den nächsten Monaten eingeschult werden. Geflüchtete ukrainische Lehrerinnen bieten dabei ihre Hilfe an.
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Die ersten ukrainischen Kinder sind in diesen Tagen eingeschult worden. Tausende, wenn nicht Zehntausende, dürften in den nächsten Monaten dazukommen. Justizministerin Karin Keller-Sutter rechnet bis Juni mit bis zu 50'000 ukrainischen Geflüchteten. Bis jetzt beträgt der Anteil der Minderjährigen 40 Prozent. Ob und wann eine Rückkehr in die Heimat möglich wird, ist nicht absehbar.
Die Kantone entwerfen deshalb Szenarien zur Integration der ukrainischen Kinder in die helvetischen Klassenzimmer. Wie kann man die Einschulung in einem fremden Land erfolgreich gestalten? CH Media liefert Einschätzungen zu den brennendsten Fragen.
Stefan Wolter, Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, skizziert ein «ideales» Vorgehen: Die Kinder und Jugendlichen lernen in Kleingruppen während zwei bis drei Monaten in Intensivprogrammen die Ortssprache. «Ältere Schüler, die sehr gut Englisch beherrschen und in der Ukraine das Gymnasium besuchten, könnten parallel dazu schon in Regelklassen integriert werden», sagt er.
Nach dem Erlernen der Landessprache sollen die Kinder aus der Ukraine maximal zu zweit in eine Regelklasse integriert werden. Die Forschung zeige: Je grösser eine zu integrierende Gruppe sei, desto schleppender gestalte sich die Integration. «Einzelne Kinder hingegen werden von der Regelklasse quasi absorbiert.» Es sei wichtig, dass die Flüchtlingsfamilien in der Schweiz dezentral verteilt würden, damit nicht zu viele Kinder aus der Ukraine in die gleiche Klasse eingeteilt würden.
Die Schule befindet seit Beginn der Pandemie in einem dauerhaften Stresstest. Aufgrund des nach wie vor grassierenden Coronavirus fallen aktuell sehr viele Lehrkräfte aus. «Das System ist bereits stark belastet», sagt Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Es werde eine Herausforderung, die Integration der ukrainischen Kinder zu managen – «zum Beispiel von solchen, die traumatische Erlebnisse mit sich tragen, um daheimgebliebene Familienangehörige bangen und die Ortssprache nicht beherrschen».
Rösler fordert von den Schulbehörden Unterstützung für Klassenlehrpersonen, etwa durch Schulpsychologen und Lehrpersonen, die Deutsch für fremdsprachige Kinder unterrichten. Allerdings zeichnen sich personelle Engpässe ab: Gemäss der Zürcher Bildungsdirektion ist die Situation bei den Lehrerinnen und Lehrern, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten, angespannt.
Stefan Wolter ermuntert die Behörden, jetzt nachhaltige Konzepte zur Einschulung der ukrainischen Kinder erstellen. Potenzielle Schwierigkeiten ortet er vor allem bei den Stufenübertritten: Wie kann ein Jugendlicher, der kurz vor dem Schulabschluss steht, nachher eine Berufslehre oder eine weiterführende Schule in Angriff nehmen? Wie gelingt die Integration in den Arbeitsmarkt? Flüchtlingskinder in eine 2. oder 3. Primarklasse einzugliedern, falle hingegen in der Regel nicht so schwer.
Stephan Huber, Professor und Leiter des Instituts für Bildungsmanagement der Pädagogischen Hochschule Zug, hat in diesen Tagen 200 Pädagoginnen und Pädagogen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Rahmen des www.schul-barometer.net befragt zum Thema Integration ukrainischer Schulkinder. Auch er betont: «Die Zusatzbelastung für die Lehrerinnen und Lehrer, viele erschöpft wegen der pandemiebedingten Auswirkungen, muss abgefedert werden.»
Huber plädiert für eine gute Koordination bei der Verteilung der ukrainischen Schulkinder. «Das Engagement in den Schulen ist sicherlich sehr hoch, aber sie sollten nicht in Schulen kommen, bei denen ohnehin schon die personellen oder räumlichen Kapazitäten überschritten sind.» Auch nicht unbedingt in Brennpunktschulen, wo der Anteil der Schüler aus nicht privilegierten Familien sehr hoch ist. Wichtig sei auch, dass es nicht nur um schulische Angebote geht, so Huber, sondern auch um soziale Angebote in der Freizeitgestaltung.
In der nächsten Woche wird die Plenarversammlung der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) über die Integration ukrainischer Flüchtlingskinder diskutieren. Die Ostschweizer Kantone haben entsprechende Arbeiten schon am vergangenen Wochenende aufgenommen.
Der Kanton Appenzell Ausserrhoden etwa hat bereits einen Leitfaden mit mehreren Szenarien erstellt. Sollten viele Flüchtlinge in kurzer Zeit eintreffen, würde der Kanton umsetzen, was Wolter vorschlägt: Zunächst intensiv Deutsch lernen in Integrationsklassen, bis die Kinder bereit sind für die Regelklasse.
CH Media hat mehrere ukrainische Lehrerinnen auf Facebook kontaktiert. Fazit: Sie würden sehr gerne ukrainische Kinder bei der Einschulung in hiesige Schulen unterstützen. Bei Schulverantwortlichen kommt dieses Angebot gut an. «Es gibt Überlegungen in diese Richtung», sagt zum Beispiel Alfred Stricker, Erziehungsdirektor des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Auch die Zürcher Bildungsdirektion prüft den Einsatz ukrainischer Fachpersonen.
Das ist eine wichtige Komponente. «Kinder brauchen Kinder», sagt Carl Bossard, Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Man sollte darauf achten, dass die ukrainischen Kinder mit in der Schweiz ansässigen «Gspänli» zusammenkämen; so könnten sie sich hier emotional rasch geborgen fühlen. Das unterstütze auch das Eintauchen in die neue Sprache. Bossard regt an, dass Klassenlehrerinnen und -lehrer ihre Kinder ermuntern, ukrainische Jugendliche auch ausserschulisch als eine Art Gotte oder Götti zu begleiten.
Ab der zweiten Primarklasse lernen sie Englisch und lernen damit das lateinische Alphabet kennen. Eine zweite Fremdsprache (meist Deutsch, Französisch oder Spanisch) kommt ab der 5. Klasse als Wahlfach dazu. Positiv sei das im Durchschnitt verhältnismässig gute Schulsystem, sagt Bildungsökonom Stefan Wolter. Beim letzten Pisa-Test im Jahr 2018 hätten die Jugendlichen in der Ukraine im Lesen und in Naturwissenschaften praktisch mit ihren Schweizer Alterskollegen mithalten können. In der Mathematik betrage der Rückstand jedoch mehr als ein Schuljahr.