Doris Leuthard politisierte mit Charme und Kaltblütigkeit

Ihr politischer Instinkt gepaart mit Bodenhaftung und Charme machten Doris Leuthard zur Ausnahme-Bundesrätin. Gestern gab sie auf Ende Jahr ihren Rücktritt bekannt.

Doris Kleck
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Mit ihrem Abgang endet eine Ära im Bundesrat: Doris Leuthard tritt nach zwölf Jahren in der Landesregierung zurück. (Bild: Alexandra Wey/Keystone (Bern, 30. April 2018))

Mit ihrem Abgang endet eine Ära im Bundesrat: Doris Leuthard tritt nach zwölf Jahren in der Landesregierung zurück. (Bild: Alexandra Wey/Keystone (Bern, 30. April 2018))

Das Buffet war fast fertig angerichtet, die Gäste noch nicht eingetroffen. Nur Doris Leuthard war schon da. Und was machte die Bundesrätin? Sie machte sich an die Arbeit, schritt zum Buffet, entfernte die Frischhaltefolien von den Apérohäppchen und scherzte: «Meine Mutter war schliesslich Wirtin.» Bis die Ständeräte eintrafen, war der Apéro bereit. Es war einer dieser Montage zu Sessionsbeginn, wenn sich die Vertreter der kleinen Kammer zum Apéro im Vorzimmer treffen.

Die Szene sagt viel aus über Leuthard. Zupackend. Zugänglich. Ohne Allüren. Auch nach 12 Jahren im Bundesrat ist Leuthard noch immer «Eusi Doris». Und das ist nicht despektierlich gemeint, sondern beschreibt ihr aussergewöhnliches Polittalent. Auch die beiden SP-Magistraten Simonetta Sommaruga und Alain Berset beherrschen das politische Einmaleins bestens. Doch Leuthard wirkt nie zu kontrolliert, nie zu glamourös. Egal ob in knatterndem Hochdeutsch, breitem Englisch oder im Français fédérale. Egal ob im Gespräch mit Staatschefs, Wirtschaftsbossen oder Büezern. Sie trifft den Ton – und alle fühlen sich wohl.

«Duschen mit Doris»

Die Transformation von der Politikerin Leuthard zur bürgernahen Doris geschah im Wahlkampf 1999. Die Neo-Politikerin sass erst seit zwei Jahren im Aargauer Grossrat und kandidierte für National- und Ständerat. Im Zuge der Wahl von Ruth Metzler in den Bundesrat war oft die Rede vom «Metzler-Effekt» in der CVP. Die damals 36-jährige Leuthard gab selbstbewusst zu Protokoll: «Frauen meiner Generation können und werden sich selber behaupten. Unser Einfluss wird wachsen.» Im Wahlkampf verteilte sie 20 000 Beutel Duschmittel mit ihrem Konterfei und dem Slogan «Erfrischender Aargau». Die «Aargauer Zeitung» machte daraus «Duschen mit Doris» – dies setzte sich in den Köpfen fest. Und Doris Leuthard selbst sagte einmal: «Es war ein Gag, der sehr gut ankam. Seither bin ich für die Aargauer die Doris.»

Als Doris Leuthard im Bundeshaus ankam, war sie bereits schweizweit bekannt. Kaum als Nationalrätin vereidigt, erschien in der «Schweizer Illustrierten» eine mehrseitige Homestory über ihre Hochzeit mit Jugendfreund Roland Hausin. Es schien, als habe Bundesbern auf die Anwältin gewartet. Zwar ist von Leuthard, deren Vater 20 Jahre im Aargauer Grossrat für die CVP politisierte, bekannt, dass sie bereits als Elfjährige Nationalrätin als Traumberuf angegeben hatte. Doch auf die Karte Politik setzte sie erst, als der Kinderwunsch aus medizinischen Gründen unerfüllt geblieben war.

Ihre politische Karriere begann sie vergleichsweise spät, doch um so fulminanter. Sie wolle nicht einfach mitschwimmen, sondern crawlen, sagte sie zur NZZ. «Wenn ich etwas mache, will ich es recht machen.» Zwei Jahre nach ihrer Wahl in den Nationalrat wurde sie bereits als Parteipräsidentin gehandelt. Sie zierte sich, begnügte sich mit dem Vizepräsidium. Drei Jahre später – die Partei erlebte mit der Abwahl von Bundes­rätin Ruth Metzler gerade ihr grösstes Trauma – übernahm sie schliesslich die Leitung. Eine Alternative zu Leuthard? Die gab es nicht. Genauso wenig wie 2006 bei der Wahl in den Bundesrat.

Leuthard war die einzige Kandidatin. Ein Einerticket – heute unvorstellbar, man spräche von Erpressung. Doch Doris Leuthard in Bern – das war auch immer die Unbestrittene. Das spiegelt sich in den vielen Namen, die ihr die Medien in all den Jahren gaben: «Die Strahle-frau», «Die Superfrau», «Die neue Helvetia», «Die Machtmaschine», «Every­body’s Darling», «Die perfekte Mitte der CVP». Parteichefin Leuthard verkaufte die Abwahl Metzlers als Chance. Die CVP könne mit einer Vertretung im Bundesrat unabhängiger agieren und ihr Profil schärfen.

Führungsanspruch im Bundesrat

2006 folgte die Wahl in den Bundesrat. Leuthard kommt zwar aus dem katholischen Freiamt, doch sie war die erste CVP-Bundesrätin, die nicht aus den Stammlanden der Partei kam. Ihre Kollegen im Regierungsgremium waren Alphatiere wie Pascal Couchepin, Christoph Blocher oder Michelin Calmy-Rey. Leuthards erste vier Jahre im Volkswirtschaftsdepartement werden wenige in Erinnerung behalten. Klar, sie scheute das Duell mit den Bauern nicht, propagierte den Agrarfreihandel und wurde dafür von Mitgliedern der Bauerngewerkschaft Uniterre mit Gummistiefeln beworfen. Sie sanierte die Arbeitslosenversicherung, lancierte Freihandelsabkommen mit Japan und China und wollte mit der Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips die Schweizer Preise senken. Prägender war jedoch Phase Nummer zwei ihrer Regierungszeit: 2010 wechselte sie ins Infrastrukturdepartement Uvek, war fortan verantwortlich für Verkehr, Energie, Umwelt und Medien. Und damit auch für SBB, Post und Swisscom.

Mit dem Wechsel ins grössere und bedeutendere Departement manifestierte Leuthard ihren Führungsanspruch. Die Konstellation im Bundesrat hatte sich entscheidend geändert: Die SVP war mit nur einem Sitz marginalisiert, die Mitte gestärkt mit BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und FDP-Magistrat Didier Burkhalter, für den die Partei­räson nicht zählte. Diese Zusammensetzung stärkte Leuthards Rolle als Mehrheitsbeschafferin — mal nach links, mal nach rechts. Eine Periode, die erst mit dem Einzug von Ignazio Cassis endete.

Als Leuthard ins Uvek wechselte, jubelte die Wirtschaft. Denn die Juristin galt als Verfechterin der Atomenergie. Das Mandat als Verwaltungsrätin der Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg trug ihr den Übernamen «Atom-Doris» ein. Mit dem Reaktorunglück von Fukushima im März 2011 bewies Leuthard jedoch ihre Wandlungsfähigkeit. Und politischen Instinkt. Sie realisierte, dass die Bevölkerung dem Bau neuer AKW auf Jahre hinaus nicht mehr zustimmen würde. Zunächst sistierte sie alle laufenden Rahmenbewilligungsgesuche für neue AKW, und etwas mehr als zwei Monate danach beschloss sie zusammen mit dem Gesamtbundesrat den endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie.

Sechs Jahre später stimmten knapp 60 Prozent der Bevölkerung für Leuthards Energiewende. Dagegen opponierte nur die SVP. Mit der neuen Energiestrategie wurden derart viele Geschenke und Subventionen verteilt, dass sich niemand mehr richtig auflehnen mochte. Das gleiche Prinzip wendete Leuthard auch bei den neuen Fonds für die Bahninfrastruktur und die Strassen an. Der «Tages-Anzeiger» beschrieb Leuthards Stil mal als «Regieren nach dem Prinzip Aargau». Der Kanton entstand 1803 als Flickenteppich von Napoleons Gnaden. Der Franzose hatte aus urbanen und ländlichen, katholischen und protestantischen, entwickelten und weniger entwickelten, progressiven und konservativen Stücken einen Kanton geformt. Wer im Aargau etwas erreichen will, muss die Regeln der Konkordanz beherrschen und Kompromisse schmieden können.

Das konnte Leuthard tatsächlich hervorragend. Und sie konnte ihre Politik auch kommunizieren. Sie hatte Lust an der Macht – und an der Debatte. Die ­Liste der gewonnen Abstimmungen ist lang. Die begnadete Kommunikatorin erlebte an der Urne nur drei Niederlagen: darunter die Erhöhung des Vignettenpreises, die das Volk ablehnte und die Annahme der Zweitwohnungs-Initiative. Echte Krisen? Die gab es selten – und wenn, hinterliessen sie keine Kratzer. Dass der Streit mit der EU ausgerechnet in Leuthards Präsidialjahr 2017 eskalierte – die EU anerkannte die Schweizer Börse nur befristet für ein Jahr – war zum Teil auch Leuthards Versäumnis.

Verpasste Debatte über den Service public

Sie schürte in Sachen Rahmenabkommen falsche Erwartungen. Vorwärts ging es auf Schweizer Seite aber nicht. Die Eskalation habe der Bundesrat zumindest zur Hälfte selbst zu verschulden, sagen selbst bundesratsnahe Kreise. Leuthard jedoch geisselte in einem denkwürdigen Auftritt vor den Medien die EU. Endlich eine Bundespräsidentin, die sich gegen den Druck der EU wehrt – in der Öffentlichkeit blieb nichts an Leuthard hängen. Als Anfang dieses Jahres der Subventionsskandal um die Postauto AG ans Licht kam, sahen viele Kritiker Leuthards Stern am Sinken. Auch diese Affäre blieb jedoch nicht an ihr, der politischen Verantwortlichen für die Post, hängen. Leuthard versprach lückenlose Aufklärung. Die Sache war gegessen. Ihre Kritiker wieder verstummt.

Dabei kann man Leuthard tatsächlich vorwerfen, dass sie sich nie einer richtigen Service-public-Diskussion gestellt hat. Ihr Nachfolger wird sich diesen überall wuchernden staatsnahen Betrieben – von der Post bis zur SRG – stärker annehmen müssen.

Die Angela Merkel der Schweiz

Leuthard-Kritiker, die gibt es durchaus: sie, die Leuthards Auftritt manchmal als arrogant empfinden, die der Aargauerin Kritikunfähigkeit vorwerfen. Dabei wissen auch sie: Leuthard weiss, wovon sie spricht. Sie kennt ihre Dossiers. Aber tatsächlich, wenn Leuthard sauer ist, dann lässt sie dies selbst Parlamentarier spüren. Gestandene Ständeräte wirken wie Schulbuben, wenn sie von Leuthard ­abgekanzelt werden – durchaus mit Charme, aber eben auch Kaltblütigkeit.

Und die CVP? «Merkel ist meine Konstante», scherzte Leuthard einst in einem Interview. Tatsächlich werden die beiden Frauen immer wieder verglichen: Sie gehören zu einer C-Partei, verantworteten den Atomausstieg, hielten mächtige Männer in Schach. Und wie man sich die CDU nicht ohne Bundeskanzlerin Angela Merkel vorstellen kann, so geht es einem auch mit der CVP ohne Bundesrätin Doris Leuthard. In Fraktionssitzungen liest die CVP-Magistratin ihren Parteikollegen manchmal die Leviten, ihr Einfluss ist gross.

Wenn sich Leuthard äussert, dann gilt das meist als abschliessend. Der Historiker Urs Altermatt zählt Leuthard zum Lager der «ausgleichenden Zentristen». Mit dem Rücktritt von Leuthard braucht die Partei einen neuen Kompass. Dass sich Exponenten der CVP wünschten, Leuthard würde auf ihren Entscheid zurückkommen und über 2019 hinaus in der Regierung bleiben, sagt eigentlich alles über ihre Bedeutung für die Partei aus.