Die Bandbreite der Meinungen ist in der CVP traditionell gross. Doch dass Ständeräte ein vom eigenen Fraktionschef angestossenes Gesetz ablehnen, ist hingegen ungewöhnlich.
Tobias Bär
Wer die gestrige Mitteilung der CVP liest, der könnte meinen, er habe es mit einer Partei auf Erfolgskurs zu tun. «Erfolgreich vor dem Volk», heisst es da. Bei 32 von 41 nationalen Volksabstimmungen seit 2011 habe man zum siegreichen Lager gehört. Doch während die CVP an Abstimmungssonntagen oft jubeln kann, dominieren an Wahlsonntagen lange Gesichter. Auf nationaler Ebene verlieren die Christlichdemokraten seit 1979 kontinuierlich Wähleranteile, alle vier Jahre geht es ein Stück abwärts. Und die Prognosen für die Wahlen in drei Wochen lassen weitere Verluste erwarten.
Umso wichtiger wäre kurz vor dem Urnengang ein geschlossenes Auftreten – könnte man meinen. Doch am Donnerstag trat wieder einmal die Unberechenbarkeit der Partei zu Tage.
Es ging im Ständerat um ein Gesetz, das längere Ladenöffnungszeiten in der ganzen Schweiz ermöglichen würde. Den Anstoss dazu hatte der heutige CVP-Fraktionschef Filippo Lombardi mit einem Vorstoss gegeben. Lombardis Partei stimmte der Vorlage in der Vernehmlassung denn auch zu, brachte aber zwei Änderungsvorschläge ein. Diese nahm die vorberatende Kommission auf. Damit schien klar, dass die CVP-Ständeräte der Teilliberalisierung zustimmen würden.
Doch es kam anders: Vier CVP-Vertreter scherten aus und sorgten damit für eine knappe Nein-Mehrheit. Einer der Gegner ist der Innerrhoder CVP-Ständerat Ivo Bischofberger. Er habe aus föderalistischen Gründen gegen das Gesetz gestimmt, die Regelung der Ladenöffnungszeiten müsse Sache der Kantone bleiben, sagt er.
Fraktionschef Lombardi meint zum Abstimmungsverhalten seiner Parteikollegen, er wolle nicht bei «jedem Vorstoss» für geschlossene Reihen sorgen. «Entscheidend ist, dass bei den wichtigen Themen Fraktionsdisziplin herrscht», so der Tessiner Ständerat.
Zu den wichtigen Themen gehört ohne Zweifel die Rentenreform. Und dort herrschte bei der CVP jüngst ebenfalls Kakofonie. Kaum hatten die CVP-Ständeräte einer Kompromisslösung zum Durchbruch verholfen, die eine Erhöhung der AHV-Renten um 70 Franken vorsieht, ertönten die ersten kritischen Stimmen von CVP-Nationalräten. «Bei der Altersvorsorge wäre es wünschenswert, dass wir uns einig sind», sagt Lombardi. Nach den Wahlen stünden deshalb «intensive Gespräche» mit den Nationalräten an.
Der Bündner CVP-Nationalrat Martin Candinas ist einer, der sich bei der Rentenreform für den Kompromiss ausspricht. Er schätze die Bandbreite der Meinungen in seiner Partei. «Wir dürfen als Individuen politisieren, das zeichnet uns auch aus.» Tatsächlich sind divergierende Meinungen in der DNA der CVP angelegt, die Partei wird traditionell geprägt von einem konservativen und einem christlichsozialen Flügel.
Der Politgeograf Michael Hermann bezeichnete die CVP einmal als «eine Partei aus Flügeln, jedoch ohne Rumpf». Auf der jüngsten von Hermann erstellten Links-rechts-Skala für den Nationalrat ist keine Partei derart breit verstreut. Als Mittepartei ist die CVP aber auch Mehrheitsbeschafferin. CVP-Ständerat Stefan Engler (Graubünden) hat daran nicht nur Freude. Engler sagte kürzlich, die Partei müsse sich klarer positionieren und dafür in Kauf nehmen, weniger Abstimmungen im Parlament zu gewinnen.
Martin Candinas stimmt im Grundsatz zu. «Fahren wir aber immer eine strikte Linie, dann kann man zum Beispiel die Rentenreform vergessen.»
Mitentscheidend für die zukünftige Ausrichtung der CVP wird sein, wer die Nachfolge von Parteipräsident Christophe Darbellay antritt. Ein oft genannter Kandidat ist der Zuger Nationalrat Gerhard Pfister, der am rechten Rand der Partei politisiert. Candinas, der selber als möglicher Nachfolger gilt, skizziert das Anforderungsprofil: «Der neue Präsident muss die Partei einen, er darf deshalb nicht polarisieren.»