RENTENREFORM: Rechsteiners Coup

Der St. Galler Ständerat Paul Rechsteiner hat den AHV-Zuschlag von 70 Franken mit sicherem Machtinstinkt durch das Parlament gelotst. Am Ziel ist der Gewerkschafter aber noch nicht.

Dominic Wirth
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Der Mann im Hintergrund: Paul Rechsteiner hat bei der Rentenreform die Fäden gezogen. (Bild: Peter Klaunzer/Keystone (Bern, 17. März 2017))

Der Mann im Hintergrund: Paul Rechsteiner hat bei der Rentenreform die Fäden gezogen. (Bild: Peter Klaunzer/Keystone (Bern, 17. März 2017))

Dominic Wirth

Paul Rechsteiner ist sonst kein Mann, der aus der Fassung gerät, im Gegenteil: Er hat etwas sehr Nüchternes, das er selbst bei den härtesten Podiumsdiskussionen nicht ablegt. Doch diese Woche war eine besondere, die Schweizer Politik erlebte einen wahren Renten-Krimi, und eine der Hauptrollen besetzte: Rechsteiner, St. Galler SP-Ständerat und oberster Gewerkschafter des Landes. So kam es, dass der 64-Jährige am Donnerstag im Nationalratssaal stand und einen Augenblick lang nicht verbergen konnte, wie sehr die Gefühle an diesem Tag auch in ihm wühlten.

Am Mittag winkte der Nationalrat die Rentenreform durch, 101 Ja-Stimmen, und jede einzelne war nötig. Als sich nach der Zitterpartie um ihn herum die Parteikollegen in den Armen lagen, entwischte Rechsteiner ein kurzes, frohes «Heilandsack».

Taktisches Geschick, passende Umstände

Seit den gestrigen Schlussabstimmungen steht endgültig fest, dass das Volk im Herbst über die von Rechsteiner massgeblich mitgeprägte Rentenreform des Ständerats abstimmen wird. Ein Ja zum AHV-Ausbau wäre für den St. Galler einer der wichtigsten Erfolge seiner Karriere. «Es gäbe für ihn nichts Wichtigeres», sagt gar jemand, der mit ihm im Ständerat sitzt.

Rechsteiner selbst schaut in diesen Tagen gerne in die Vergangenheit, wenn er die Bedeutung der Abstimmung vom 24. September illustrieren will. Für ihn stünde ein Ja zur Rentenreform für die «vierte historische Etappe in der AHV-Geschichte», nach der Gründung 1948, den Reformen der 70er- und den Gleichstellungserfolgen der 90er-Jahre, «denn das würde bedeuten, dass sich die Renten wieder positiv entwickeln». Die AHV und die Linke, das ist eine Liebesgeschichte, weil die erste Säule der Schweizer Altersvorsorge für die Umverteilung steht. Im Kampf um ihren Ausbau laufen die linken Fäden bei Rechsteiner zusammen, und diese Woche hat sich im Bundeshaus gezeigt, wie gut der Routinier nach über 30 Jahren in Bern den Machtpoker beherrscht. Bei der Einigungskonferenz am Dienstag soll laut Anwesenden vor allem er für die SP gesprochen haben.

Es liegt zu einem guten Teil am taktischen Geschick des Ostschweizers, dass im Parlament nun die Rentenreform von Mitte-Links obsiegt hat. Beim Schmieden der Allianz mit der CVP im Ständerat spielte Rechsteiner eine zentrale Rolle. Dieses Bündnis hielt bis zum Schluss, obwohl die SP vom AHV-Ausbau mehr hatte als die CVP von ihrem Teil des Deals, den höheren Ehepaar-Renten. Die Besserstellung von Verheirateten, ein konservatives Anliegen, unterstreicht, wie weit Rechsteiner und seine SP für das grosse Ziel AHV-Ausbau zu gehen bereit waren.

Begünstigt wurde Rechstei­ners wichtiger Etappensieg durch eine Reihe von Entwicklungen, die den Linken in die Hände gespielt haben. Etwa dem Einzug von SP-Bundesrat Alain Berset in das bei der Rentenreform federführende Innenministerium im Jahr 2012. Der Freiburger stellte sich bei den Parlamentsberatungen rasch hinter das Ständeratsmodell. Im Bundesamt für Sozialversicherungen sitzt mit Direktor Jürg Brechbühl ausserdem ein alter Bekannter Rechsteiners. Dazu kam der Präsidentenwechsel beim Allianzpartner CVP im letzten Jahr. Unter der Führung von Gerhard Pfister verstummten jene Stimmen in der Partei, die zu Beginn am AHV-Zuschlag gezweifelt hatten. Bei der FDP und der SVP, den Verlierern dieser Woche, ist man derzeit nicht gut auf Rechsteiner zu sprechen. Roland Eberle, der Thurgauer SVP-Ständerat, bezeichnet die Einigungskonferenz als Tiefpunkt seiner politischen Laufbahn. Die Allianz aus CVP und SP habe im Wissen um ihre Mehrheit und angeführt von Rechsteiner die eigene Lösung «ohne jede Kompromissbereitschaft durchgepowert». Eberle sagt: «Das war die ultimative Fortsetzung des rot-schwarzen Machtpokers.»

Rechsteiner selbst hat in den letzten Wochen stets betont, dass schon die 70-Franken-Lösung aus linker Sicht ein Kompromiss sei. Seine nächste Mission besteht nun darin, auch die Gewerkschaften davon zu überzeugen. In der Westschweiz regt sich schon seit längerem Widerstand gegen die Reform. In den nächsten Tagen stehen nun in der Deutschschweiz wichtige Entscheide an. Bevor die Delegierten des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds am kommenden Freitag entscheiden, ob sie die Reform ihres Präsidenten unterstützen wollen, wirbt der St. Galler heute an der Delegiertenversammlung der Unia für ein Ja. «Ich werde alles dafür tun, dass die Gewerkschaften die Reform mittragen», sagt Rechsteiner, der für sein grosses Projekt eines unbedingt verhindern will vor der Abstimmung im Herbst: einen Kampf an zwei Fronten, gegen rechts – und auch gegen links.