Schwarzer Tag für die schweizerische Luftfahrt: «Tante Ju» krachte senkrecht zu Boden

Der Ausflug mit einer JU-52 ins Tessin endet für 20 Menschen tödlich. Warum? Abgeklärt wird unter anderem der Einfluss der Hitze.

Patrik Müller, Flims
Drucken
Die Absturzstelle des Oldtimer-Flugzeugs JU-52 liegt auf 2540 Metern Höhe am Piz Segnas. Die Bergungsarbeiten sind schwierig. (Bild: Kantonspolizei Graubünden)

Die Absturzstelle des Oldtimer-Flugzeugs JU-52 liegt auf 2540 Metern Höhe am Piz Segnas. Die Bergungsarbeiten sind schwierig. (Bild: Kantonspolizei Graubünden)

Es ist ein prächtiges Wandergebiet und gerade jetzt, wo im Mittelland Bruthitze herrscht, bei Touristen äusserst beliebt. Die Gegend unterhalb des Piz Segnas, wo am Samstag gegen 17 Uhr die JU-52 abgestürzt ist, liegt auf dem Gemeindegebiet von Flims in Graubünden, aber unweit der Grenze zum Kanton Glarus. Der Piz Segnas ist einer von mehreren Berggipfeln, die zum Weltnaturerbe der Tektonikarena Sardona gehören. Zum Wandern wunderschön – und wohl auch zum Drüberfliegen.

Der Absturzort befindet sich auf 2540 Metern über Meer. Es gebe mehrere Augenzeugen des Unglücks, sagte Andreas Tobler von der Kantonspolizei Graubünden gestern an einer Medienkonferenz in Flims. Auch von ihnen erhofft man sich Antworten auf die Frage: Wie konnte es passieren, dass erstmals überhaupt eine, von insgesamt drei «Tante Ju» der Dübendorfer Ju-Air verunglückte? Gesichert sind bislang folgende Informa­tionen:

Die Opfer: 11 Männer und 9 Frauen aus den Kantonen Zürich, Thurgau, Luzern, Schwyz, Zug und Waadt sowie aus Österreich stammend. Sie waren zwischen 42- und 84-jährig. Die Passagiere hatten ein Angebot der Ju-Air gebucht. Ein Flug von Dübendorf nach Locarno ins Tessin, dort gab es ein Programm, am Tag darauf folgte der Rückflug. Einige der Passagiere haben sich gekannt. Noch sind nicht alle Opfer geborgen. Laut Kantonspolizei werden dafür noch mehrere Tage benötigt. Ein Gebirgsdetachement der Luftwaffe ist vor Ort im Einsatz.

Die Besatzung: Laut JU-Air-Chef Kurt Waldmeier waren die Piloten «sehr erfahren». Beide Kapitäne, 62- und 63-jährig, hätten je über dreissig Jahre Erfahrung als Linienpiloten bei der Swissair und der Swiss verfügt. Fast so lange seien sie auch als Militärpiloten tätig gewesen. Der eine Pilot flog seit 2004 regelmässig den Flugzeugtyp JU-52 und hatte damit 943 Flugstunden gesammelt. Die Piloten hinterlassen ihre Lebenspartnerinnen, der eine Pilot zudem zwei Söhne. Die Flight Attendant war 66-jährig und hinterlässt ihren Lebenspartner.

Die Unglücksmaschine: Die dreimotorige JU-52 war 79 Jahre alt und seit 1983 zivil für die JU-Air im Einsatz. Davor flog sie für die Luftwaffe. Diese musterte ihre drei «Tante Ju» nach über 40-jährigem Betrieb 1981 aus. Mit Spendengeldern ermöglichte der Verein «Freunde der schweizerischen Luftwaffe» den Erhalt der Flugzeuge. Die abgestürzte Maschine war gemäss JU-Air insgesamt 10 187 Stunden in der Luft. Auch wegen ihres Alters sei sie technisch streng kontrolliert worden. Technische Probleme waren nicht bekannt. «Alle 35 Flugstunden wurde sie gewartet», sagte Airlinechef Waldmeier, letztmals Ende Juli: «Uns waren keine technischen Probleme bekannt.» Der Hinflug von Dübendorf nach Locarno vom Freitag sei ganz normal durchgeführt worden.

Der Rückflug: Die «Tante Ju» startete am Samstag um 16.10 Uhr in Locarno. Die Piloten fliegen bei dieser Maschine nach Sicht. Sie benutzen Karten und halten die Mindesthöhe und die Mindestabstände zu den Wolken gewissermassen manuell ein. «Die genaue Route und die Flughöhen werden von den Piloten bestimmt», erklärte CEO Waldmeier. Zur Unfallursache weiss er nichts. Er habe keinerlei Hinweise darauf, wie es zum Unglück kam. Die JU-Air stelle den Betrieb bis auf weiteres ein. Ob die anderen beiden Flieger je wieder starten, konnte Waldmeier gestern nicht sagen. Es sei der «schwierigste und schwärzeste Tag» für die JU-Air. Er habe alles Interesse an der Aufklärung: «Damit ein solcher Unfall nie mehr geschehen kann.»

Die Ausschlussgründe: Daniel Knecht von der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) sagte, das Flugzeug sei «nahezu senkrecht» in den Boden gekracht. Auszuschliessen sei eine Kollision mit einem anderen Fluggerät oder mit einem Kabel. Und es gebe auch keine Hinweise darauf, dass das Flugzeug Teile verloren habe oder gar auseinandergebrochen sei. «Es war ein altes Flugzeug ohne Aufzeichnungsgeräte, darum wird die Abklärung relativ komplex.» Zudem gebe es im Gebirge wenige Radaraufzeichnungen. Man weiss also, was es nicht war. Doch was wären mögliche Unglücksursachen?

Der Faktor Hitze: Einer der anwesenden ausländischen Journalisten, ein RTL-Reporter, warf auch die Frage nach der Hitze auf. Könnten die ungewöhnlich hohen Temperaturen die Maschine oder auch die Arbeit der Piloten beeinträchtigt haben? Daniel Knecht von der Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) antwortete darauf, grundsätzlich seien hohe Temperaturen tatsächlich «eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit eines Flugzeugs. Ursächlich kann die Hitze selbst nicht sein, sondern allenfalls der Umgang mit ihr.» Bei erhöhten Temperaturen würden allerdings erfahrene Piloten beispielsweise weniger hoch fliegen oder sie würden die Ladung verringern, um auf die tiefere Leistungsfähigkeit der Maschine zu reagieren. «Oder aber die Flugtaktik anpassen», so Knecht.

Der Faktor Mensch: Die Fliegerei im Gebirge ist generell sehr anspruchsvoll. Nicht nur die Topografie, sondern auch Scher- und Fallwinde machen das Fliegen im Vergleich zum Flachland viel schwieriger. Ein Flugunfallexperte, der nicht namentlich zitiert werden möchte, sagt: «Zu 95 Prozent sind Abstürze im Gebirge auf Pilotenfehler zurückzu­führen.»

JU-52: Ein fliegendes Geschichtsbuch

Der Pilot Peter Brotschi kennt die JU-52 aus eigener Erfahrung. Er erinnert sich:

«Das erste Erlebnis mit der Junkers JU-52 war ein verpasster Mitflug. Früher war es üblich, dass die Aspiranten der Flieger- und Flab-Offiziersschule kurz vor der Brevetierung zum Leutnant mit der Tante Ju einen Flug machen durften. Das Flugzeug war schon damals eine Legende. Neben unserem Ausbildungshangar in Dübendorf war die Halle 9, wo die JU-52 noch heute eingestellt sind. Nicht selten standen ältere deutsche Herren am Maschendrahtzaun, schauten mit feuchten Augen auf die Flugzeuge und sagten uns Jungen, dass sie im Zweiten Weltkrieg mit der JU-52 Tausende Stunden geflogen seien. Nun, ich lag damals im Mai 1980, am Tag des langersehnten Fluges, mit einer starken Grippe im Krankenzimmer und sah meine Kameraden über die Kaserne hinweg starten. Später, als sie ab 1983 als Zivilflugzeug flog, erhielt ich mehrere Gelegenheiten für einen Mitflug. Auch über unserer Gegend, als im August 2009 an einem Flugtag ab Olten zu Rundflügen gestartet wurde. Es war jedes Mal ein besonderes Gefühl, in den Wellblechrumpf der Tante Ju zu steigen. Wenn die drei BMW-Sternmotoren auf Startleistung hochdrehen, erhöht sich der Puls auch bei flugerfahrenen Menschen. Und stets eine Freude, mit welch sichtbaren Emotionen die Mitpassagiere den Flug im Oldtimer genossen. Die JU-52 ist für mich ein fliegendes Geschichtsbuch. Als Mensch, der eine Affinität für Geschichte und Geschichten hat, schloss ich während der Flüge manchmal die Augen, spürte die Vibrationen und hörte das sonore Brummen der Motoren. Guisan nutzte «Tante Ju» im Zweiten Weltkrieg Dann sah ich General Guisan, wie er die JU-52 während des Krieges oft als Reisemittel benutzte. Oder die Bordmechaniker, wie sie während des Lawinenwinters 1951 den eingeschneiten Bergbauern Hilfsmaterial und Heuballen aus der Luke warfen. Oder die Fallschirmgrenadiere der ersten Stunde, wie sie mit ihren Rundkappenschirmen aus der Tante Ju ausstiegen. Die JU-52 ist nicht nur ein Teil der Luftfahrtgeschichte. Sie ist seit vier Generationen ein Teil der Schweiz. Der Unfall erschüttert mich tief. Den Opfern und ihren Angehörigen gehört mein tiefstes Beileid und Gebet.»

Peter Brotschi
Aviatikjournalist und Buchautor

Die «Tante Ju» ist Teil der Schweizer Luftfahrtgeschichte. (Bild: Ju-Air)

Die «Tante Ju» ist Teil der Schweizer Luftfahrtgeschichte. (Bild: Ju-Air)

Die schlimmsten Flugunfälle in der Schweiz

  • Dürrenäsch 4. September 1963: Die Caravelle III HB-ICV der Swissair stürzt auf dem Flug von Zürich nach Genf im aargauischen Dürrenäsch ab. 80 Personen sterben. Alleine 43 stammen aus Humlikon. Die landwirtschaftliche Genossenschaft will einen Betrieb in Genf besuchen. Das Bauerndorf verliert einen Fünftel seiner Einwohner.
  • Würenlingen 21. Februar 1970: In einer Convair CV-990 HB-ICD explodiert eine Bombe. Die Swissair-Maschine stürzt bei Würenlingen ab. Alle 47 Menschen an Bord sterben. Den Anschlag verübt die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Ein halbes Jahr später entführt sie eine Swissair-Maschine. Die PFLP lässt die 155 Gei- seln frei, bevor sie das Flugzeug in die Luft sprengt.
  • Hochwald 10. April 1973: Eine Vickers Vanguard der britischen Invicta International Airways stürzt während des Landeanflugs in ein bewaldetes Hügelgebiet in Hochwald (Solothurn). Am Zielflughafen Basel herrscht Nebel und Schneetreiben. Es ist bis heute die schwerste Flugkatastrophe auf Schweizer Boden. 108 Menschen an Bord sterben, 37 überleben.
  • Bassersdorf 24. November 2001: Die Avro RJ 100 HB-IXM der Crossair aus Berlin kommend stürzt etwa 6 Kilometer vor der Landung bei Bassersdorf ab — nachdem sie Bäume berührt hat. Die Mindestsinkflughöhe wurde unterschritten. Von den 33 Insassen sterben 24, darunter die Sängerin Melanie Thornton. Zu den Überlebenden gehört die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran.