Der Luzerner CVP-Bundesrichter Thomas Stadelmann bloggt und twittert gegen Erdogans autoritären Staat. Da nimmt er auch den Boulevard in Kauf.
Der Vorgang ist rasch erzählt. Am Montag hat der «Blick» die Türkinnen und Türken in der Schweiz dazu aufgerufen, sich gegen «Erdogans Diktatur» zu wehren und die autoritäre Verfassungsreform abzulehnen. Das ist für ein hiesiges Medium an sich schon erstaunlich. Immerhin aber insofern «erfolgreich» für den neuen Super-Chefredaktor Christian Dorer, als er tags darauf titeln konnte: «Erdogan fordert von ‹Blick› Wiedergutmachung!» Der Aufruf, eine Mischung aus Sorge um den Rechtsstaat, populistischer Aufwallung und gezielter Provokation, hat verfangen. Der türkische Präsident zeigte die Frontseite der Zeitung im Fernsehen.
Einer, der dazu beigetragen hat, dass die Geschichte zum Fliegen kam, war ausgerechnet ein Bundesrichter. Und zwar einer, den bis vor ein paar Monaten nicht viele auf der medialen Rechnung hatten. Thomas Stadelmann (58), Bürger von Horw und Escholzmatt, CVP-Mitglied, klassische Anwalts- und Gerichtskarriere, die ihn vor fast genau sieben Jahren in den Schweizer Richterolymp führte.
In der Sache erstmals richtig in Erscheinung getreten war Stadelmann im vergangenen Sommer. Zuerst war der niedergeschlagene Putschversuch, dann die Säuberungsaktion in der Türkei. Der Luzerner Bundesrichter begann zu bloggen und zu twittern. Weil er sich um das Gebaren des Justizapparats, die Verletzung von Menschenrechten und die desolate Situation von politischen Gefangenen und ihrer Familien sorgte. Stadelmann kennt Land und Leute aus eigener Anschauung. Er war mehrmals privat in der Türkei unterwegs. Er ist aber insbesondere auch durch seine Tätigkeit in der Europäischen Richtervereinigung mit den sich zuspitzenden Verhältnissen vertraut.
Wer vermutet, Stadelmann suche die Aufmerksamkeit um ihrer selbst willen, ist auf dem Holzweg. Es ist auch keine politische Mission, die ihn antreibt. Er ist nicht ein politisierender Richter. Nein, es ist die Sorge um die fundamentalen Errungenschaften von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung – und um die Menschen, deren Rechte mit Füssen getreten werden. Stadelmann kennt Richter und Staatsanwälte, die von Erdogans Regime betroffen sind, persönlich. Sie sitzen im Gefängnis, weil sie nichts als ihre Arbeit getan haben. Das mag Stadelmann nicht hinnehmen: Die derart dokumentierten Unrechtsentwicklungen treffen offensichtlich einen Nerv des nüchternen Juristen. Die Reizung lässt ihn als Richter eine kalkulierte Gratwanderung in der Öffentlichkeit unternehmen.
Und nun also der «Blick». Auch wenn die Jagd nach der Schlagzeile seine Sache nicht ist: Stadelmann sieht sich als Verteidiger von Grundrechten und –werten in der Pflicht. Und weil diese in Gefahr sind, geht uns die Verfassungsreform in der Türkei alle etwas an. So tickt der Bundesrichter. So tritt er als Warner und Mahner auf. So steht er dem Boulevard zur Verfügung. Und so versucht er auch andere Medien zu öffentlichen Aufrufen zu bewegen. Es geht ihm um den Inhalt und nicht um die Form. Wichtig sind die Botschaften, deren Verbreitung, deren Verankerung – und deren Echo. Es liegt etwas Idealistisches in Stadelmanns Aktionen. Etwas, das sich in Extremsituationen mit dem Aktionismus der «Blick»-Gruppe verbinden kann.
Die Rolle der Medien aber ist eine andere Geschichte. Das weiss auch Thomas Stadelmann. Derzeit unterwegs in höherer Mission. Da kann er mit dem «Blick» und dessen Schlagzeilen leben.
Balz Bruder