VERKEHR: Senioren müssen Ausweis öfter abgeben

Der Luzerner Kantonsrat debattiert darüber, ob Senioren beim Führer­ausweisentzug diskriminiert werden. Was sagen Experten zu dieser These?

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Von der Hausärztin attestiert: Kurt Lötscher (80) aus Obernau ist noch fit genug fürs Autofahren. (Bild Corinne Glanzmann)

Von der Hausärztin attestiert: Kurt Lötscher (80) aus Obernau ist noch fit genug fürs Autofahren. (Bild Corinne Glanzmann)

Yasmin Kunz

77 759. So viele Personen mussten im vergangenen Jahr in der Schweiz den Führerausweis abgeben. Das sind 2060 Ausweisentzüge mehr als noch im Jahr 2013. Hauptgründe für den Ausweisentzug sind Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit sowie Alkohol am Steuer.

Anders sieht es im Kanton Luzern aus. Letztes Jahr wurden mit 3570 Ausweisen 33 weniger entzogen als noch im Jahr 2013. Die Hauptgründe für die Entzüge sind dieselben. 1254 Automobilisten mussten den Führerschein abgeben, weil sie die Höchstgeschwindigkeit überschritten hatten. Weitere 564 mussten wegen Angetrunkenheit am Steuer den Ausweis abgeben.

Anstieg von mehr als 30 Prozent

Immer häufiger gehören auch Senioren zu den betroffenen Personen, die ihren Ausweis abgeben müssen. Ein Blick in die neuste Statistik vom vergangenen Jahr zeigt: Von den 3570 Lenkern, deren Ausweis im Kanton Luzern entzogen wurde, waren 99 Personen zwischen 70 und 74 Jahre alt. In der Alterskategorie über 75 Jahren haben letztes Jahr 167 Personen den Führerschein abgegeben. Schaut man in der Statistik vier Jahre zurück, geben die Zahlen ein ganz anderes Bild ab: Im Jahr 2010 mussten im Kanton Luzern 63 Lenker zwischen 70 und 74 Jahren den Führerschein abgeben. Bei den über 75-Jährigen waren es 124. Das entspricht einem Anstieg von mehr als 30 Prozent. Diese Zahlen müssen allerdings in Relation gesetzt werden: Der Kanton Luzern zählt rund 30 000 Lenker in diesem Alterssegment. Wenn davon, wie letztes Jahr, 266 Personen den Ausweis abgeben müssen, entspricht das 0,8 Prozent.

Für Peter Kiser, Dienststellenleiter des Strassenverkehrsamts Luzern, steht die Anzahl der Ausweisentzüge in direktem Zusammenhang mit der Demografie. Er sagt: «Die Zahl älterer Menschen nimmt zu, daneben haben anteilmässig immer mehr ältere Personen einen Führerausweis.» Im Kanton Luzern werden jährlich etwa 14 000 Senioren zum ärztlichen Besuch aufgefordert.

Der Touring-Club der Schweiz (TCS) hält fest, dass Senioren nicht mehr Unfälle verursachen als junge Autofahrer: «Sie legen im Durchschnitt weniger Kilometer zurück als die Fahrer aller anderen Altersgruppen und gehen weniger Risiken ein. Sie fahren weniger aggressiv und trinken weniger. Auch vermeiden sie es nach Möglichkeit, nachts oder zu Spitzenzeiten zu fahren.» Auf politischer Ebene wird das Thema im Luzerner Kantonsrat diskutiert. Jim Wolanin (FDP, Neuenkirch) vermutet, dass Senioren vorschnell zu Kontrollfahrten aufgeboten werden, und spricht in diesem Zusammenhang auch von möglicher Diskriminierung (Ausgabe vom 7. September). Beispiele aus unserer Region stützen Wolanins Einschätzung (siehe Kasten). Kiser vom Strassenverkehrsamt dementiert diese Vorwürfe: «Lenker werden nur zu Kontrollfahrten aufgeboten, wenn der behandelnde Arzt oder der Verkehrsmediziner eine Kon­trollfahrt anordnet.» Kantonsrat Wolanin und etliche Senioren sprechen von einem Missstand, weil letztes Jahr wegen leichten Widerhandlungen acht Lenker über 70 Jahren im Kanton Luzern zu einer Kon­trollfahrt aufgeboten worden sind. Kiser erklärt indes, dass auch leichte Widerhandlungen, wenn sie strafrechtliche Konsequenzen haben, das Aufgebot zu einer Kontrollfahrt zur Folge haben könnten.

Ein konkretes Beispiel: Überfährt ein Lenker innerorts die Sicherheitslinie und bringt dabei andere Menschen in Gefahr oder verursacht einen Unfall, dann wird gegen ihn ein Strafverfahren eröffnet. Gefährdet er dabei jedoch keine anderen Personen, wird er nur mit einer Ordnungsbusse geahndet. Für die Senioren, die mit dem Entscheid nicht einverstanden sind, gibt es noch die Möglichkeit eines externen Gutachtens beim Verkehrsmediziner. Für dieses müssen die Senioren allerdings selber aufkommen. Kostenpunkt: zwischen 400 und 850 Franken.

Rolf Seeger, Verkehrsmediziner am Institut für Rechtsmedizin in Zürich, testet täglich die Fahrtauglichkeit von Senioren. Seeger erklärt den Ablauf: «In einem Gespräch klären wir die Krankheitsgeschichte des Betroffenen, erörtern seine Bedürfnisse, sprechen über sein Umfeld.» Weiter werden dann medizinische Tests vorgenommen. «Wir überprüfen vor allem die Augen, aber auch das Herz-Kreislauf-System. Mit sogenannten Bleistifttests wird die Kognition des Seniors geprüft.»

Verkehrsmediziner: 850 Franken

Bewegt sich der Senior in einer Grauzone, wird er aufgefordert, eine ärztlich betreute Kontrollfahrt zu absolvieren. Die Kontrollfahrten werden immer im Wohnortskanton vom zuständigen Strassenverkehrsamt durchgeführt. Peter Kiser vom Luzerner Strassenverkehrsamt sagt: «Wir absolvieren die Kontrollfahrten mit den Senioren in den Gegenden, wo sie vorwiegend auf den Strassen unterwegs sind. Wenn sie also mehrheitlich in Ruswil Auto fahren, machen wir die Kontrollfahrt in Ruswil.» Weiter erklärt Kiser, dass die Kontrollfahrten nicht mit einer Fahrprüfung zu vergleichen sind. «Wir beurteilen deutlich milder. Übersieht der Senior bei der Fahrt nur einen Rechtsvortritt, heisst das noch lange nicht, dass er den Ausweis abgeben muss.» Der Verkehrsmedizinier bestätigt die mildere Beurteilung, sagt aber: «Missachtet ein Senior gleich mehrere Regeln und stellt für andere Verkehrsteilnehmer eine Gefahr dar, ist der Fall klar – der Senior gibt den Ausweis ab.» Von den ungefähr 250 Kontrollfahrten betrifft dies etwa 120 Lenker.

Pro Jahr werden am Institut für Rechtsmedizin in Zürich 9000 Lenker medizinisch untersucht. Gemäss Seeger werden ungefähr 1200 Personen über 70 Jahre auf ihre Fahreignung getestet. Schon während des laufenden Prozesses würden 30 bis 40 Prozent der Senioren den Ausweis freiwillig abgeben. Es gebe aber auch Senioren, die sich den Führerschein auf keinen Fall entziehen lassen wollen. «Das ist eine Charakterfrage. Manchen ist das Auto eben wichtiger als die eigene Frau.» 200 bis 250 Senioren-Lenker würden die Kontrollfahrt absolvieren. «Dabei merkt man relativ gut, ob die Person noch hinters Steuer darf oder nicht. In den meisten Fällen missachten Senioren Vortrittsrechte, übersehen Velofahrer auf den Radstreifen oder Fussgänger», erklärt er. Diese Praxis zur Prüfung der Fahreignung ist im Kanton Luzern seit 1977 die gleiche. Was sich geändert hat, ist die Schulung der Hausärzte. In den Jahren 2010/11 habe man im Aargau und in Zug vermehrt Hausärzte geschult, damit sie die Tests korrekt durchführen. Seither, so Seeger, würden auch nicht mehr so viele ältere Lenker an einen Verkehrsmediziner überwiesen.

«Ich werde behandelt wie eine Art gesuchter Straftäter!»

Seniorentests kuy. Beispiele aus unserer Region zeigen, weshalb sich Senioren-Lenker diskriminiert fühlen. Häufig kritisieren sie, wie sie von den Behörden behandelt werden, oder sie zweifeln die angeordneten Tests an.

Zweifel: Kurt Lötscher aus Kriens, heute 80 Jahre alt, fährt nach wie vor Auto. «Ich sehe gut, höre gut und fühle mich fit.» Lötscher darf gemäss Hausärztin auch noch ein Auto lenken. Doch zweifelt er ein bisschen an der Seriosität der Untersuchung. «Die Hausärztin hat mich angeschaut und gemeint, ich sei in guter Kondition.» Augen-, Ohren-, oder Reaktionstests habe er nicht machen müssen. Generell findet der Senior, dass man ab 80 Jahren regelmässig zu einer Kontrollfahrt sollte. «Diese muss aber von einer neutralen Person begleitet werden.» Weiter meint Lötscher: «Sollte die Kontrollfahrt den Ansprüchen nicht genügen, müsste der Autofahrer Fahrstunden nehmen und nochmals antreten.» Als letzte Konsequenz bliebe dann noch die Abgabe des Führerausweises.

Reaktionszeit: Ein Mann aus der Region ist regelrecht entsetzt: Er musste kürzlich bei seinem Hausarzt den Test machen. Gegenüber unserer Zeitung sagt der 89-jährige Mann, der anonym bleiben möchte, dass er Buchstaben und Zahlen in einer gewissen Zeit mit einem Strich verbinden musste. Was habe denn das mit Reaktionszeit im Verkehr zu tun, fragt er sich. Auch seine Frau (82) fährt noch täglich Auto. Sie sagt: «Auf der Autobahn in der Nacht und bei Regen fühle ich mich unsicher. Bei solchen Bedingungen setze ich mich auch nicht mehr hinter das Steuer.» Weil ihr Mann den Reaktionstest knapp nicht erfüllt hat, muss er jetzt allerdings damit rechnen, dass er zur Kontrollfahrt aufgeboten wird.

Widersprüchliche Aussagen: Einem anderen Senior, der seine Anonymität ebenfalls wahren will, hat der Hausarzt nach dem Untersuch mitgeteilt, dass alles in Ordnung sei. Gegenüber dem zuständigen Strassenverkehrsamt hat der behandelnde Arzt allerdings Bedenken an der Fahrfähigkeit geäussert. Fazit: Der Senior musste zur Kontrollfahrt – diese hat er dann jedoch bestanden.

Polizeiliche Überwachung: Ein weiterer Senior aus der Region ärgert sich massiv über die Tonalität der Post, die er kürzlich vom Luzerner Strassenverkehrsamt aufgrund des Resultats der medizinischen Tests erhalten hat. In der Verfügung, die unserer Redaktion vorliegt, wird er aufgefordert, den Ausweis innert fünf Tagen abzugeben, weil seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, ein Motorfahrzeug sicher zu fahren, nicht mehr ausreicht. Gibt er den Führerausweis beziehungsweise die entsprechenden Ausweise nicht innert der angegebenen Frist ab, «werden sie, ohne weitere Aufforderung, durch die Polizei kostenpflichtig eingezogen», heisst es im Schreiben. Die Verfügung ging nicht nur an die Ärzte und ihn selber, sondern auch «an die Polizei zur Überwachung». Der 76-Jährige sagt: «Mein Leben lang habe ich mir im Strassenverkehr nichts Relevantes zu Schulden kommen lassen. Und nun werde ich von den Behörden behandelt wie eine Art polizeilich gesuchter Straftäter!»