Vor genau 40 Jahren trat die Schweiz der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. Seither haben sich der Vertrag und seine Auslegung stark verändert, was mehrmals für Kritik sorgte.
Bei einem Ehepaar würde man von der Rubinhochzeit reden: Vor genau 40 Jahren, am 28. November 1974, ratifizierte die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Hochzeitstag fällt allerdings mitten in eine schwere Beziehungskrise – so schwer, dass bereits Gedanken an eine Scheidung laut werden: Vergangene Woche hatte Verteidigungsminister Ueli Maurer laut Medienberichten im Bundesrat die Kündigung der EMRK beantragt – erfolglos.
Dieser Vorschlag von Seiten eines Regierungsmitglieds ist ein Novum. Bereits zuvor hatte Maurers SVP aber keinen Hehl daraus gemacht, dass sie von der Konvention wenig hält. Im Hinblick auf den Wahlkampf für die Parlamentswahlen kommendes Jahr plant die Partei die Lancierung einer Volksinitiative, mit der Landesrecht generell vor Völkerrecht gestellt werden soll.
Viele sehen darin einen direkten Angriff auf die EMRK. Heute ist der Vertrag gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts auf gleicher Stufe wie die Bundesverfassung angesiedelt, wie Martina Caroni, Professorin für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Luzern, erklärt. Zur Frage, ob die EMRK bei Annahme ihrer Initiative gekündigt werden müsste, hat sich die SVP bisher nicht klar geäussert. Hans-Ueli Vogt, SVP-Kantonsrat und Rechtsprofessor an der Universität Zürich, war massgeblich an der Ausarbeitung des Initiativtextes beteiligt. «Die Initiative bezieht sich nicht spezifisch auf die EMRK, weder dem Wortlaut noch der Absicht nach», betont er im Gespräch mit unserer Zeitung. «Es geht allgemein um die Frage, inwieweit die Schweiz verpflichtet ist, internationales Recht anzuwenden, das unserer Verfassung widerspricht.» Eine Kündigung der EMRK müsse aber in Kauf genommen werden, wenn sie der Verfassung widerspreche.
Als die SVP ihr Vorhaben im Sommer vorstellte, löste sie aufgebrachte Reaktionen aus. «SVP ist bereit, die Menschenrechte zu opfern», titelte der «Tages-Anzeiger» damals. Und die SP schrieb in einer Medienmitteilung: «Menschenrechte sind nicht verhandelbar.» Damit tut sie der EMRK allerdings Unrecht: Nicht nur musste die Konvention einst ausgehandelt werden, bevor sie 1953 in Kraft treten konnte, sondern sie hat sich seither auch ständig weiterentwickelt. Einerseits im Rahmen von mittlerweile 16 Zusatzprotokollen, welche die Vertragsstaaten ausgehandelt haben (siehe Box). Andererseits durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Den Richtern wird in der EMRK ein relativ grosser Spielraum zur Auslegung und zur Weiterentwicklung der Konvention zugestanden.
Gerade diese Weiterentwicklung ist es, die in jüngerer Vergangenheit für Kritik am EGMR sorgte. Der Gerichtshof beschäftige sich statt mit klaren Menschenrechtsverletzungen immer mehr mit Bagatellfällen und mische sich dabei zu stark in nationales Recht ein, wird von verschiedenen Seiten beklagt. Auf Unverständnis stiess etwa ein Urteil im Jahr 2009 zu Gunsten einer Transsexuellen, die sich vom Mann zur Frau umoperieren lassen hatte. Das Bundesgericht entschied, dass die Klägerin die Operation selbst bezahlen müsse, weil sie das Ende der vorgeschriebenen zweijährigen Beobachtungsphase nicht abgewartet hatte. Der EGMR sah durch diesen Entscheid jedoch das Recht der Klägerin auf Achtung ihres Privatlebens verletzt und auferlegte die Kosten der Operation der Krankenkasse. Selbst das Bundesgericht übte harsche Kritik an diesem Entscheid.
Rechtsprofessorin Martina Caroni stellt fest, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf wenige Urteile, insbesondere im Migrationsbereich, konzentriere. Sie erinnert daran, dass die Richter in Strassburg im überwiegenden Teil der Fälle der Schweiz Recht geben. «Aus meiner Sicht geht der EGMR in seiner Auslegung zwar weit, überschreitet die Grenze aber nicht.» Befürchtungen über Eingriffe in die nationale Souveränität haben auch andere Vertragsstaaten geäussert. Mit dem neusten Zusatzprotokoll zur EMRK soll deshalb in der Präambel klargestellt werden, dass jeder Staat in Menschenrechtsfragen einen gewissen Ermessensspielraum besitzt. Das im vergangenen Jahr unterzeichnete Protokoll ist noch nicht in Kraft, da es noch nicht von zehn Staaten ratifiziert wurde. In der Schweiz endete kürzlich die Vernehmlassung, in der sich die meisten Parteien für die Änderung aussprachen.
Für Vogt geht es weniger um einzelne Urteile als um grundsätzliche Fragen. «Der EGMR entscheidet nicht häufiger richtig oder falsch als andere Gerichte», sagt er. «Aber wieso die Institution, die entscheidet, was richtig ist und was falsch, ausserhalb unseres Staates liegen soll, verstehe ich nicht.» Die Schweiz könne die Menschenrechte problemlos selbst schützen. Martina Caroni hält den Blick von aussen dagegen nach wie vor für sinnvoll. «In gewissen Fällen ist es gut, wenn es eine Instanz gibt, die losgelöst ist von innerstaatlichen Einflüssen.»
Lukas Leuzinger
Vertrag Heute vor genau 40 Jahren hat die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Diese hat ihren Ursprung in der Nachkriegszeit. Auf Seiten der Alliierten wollte man den Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür und Gewalt zu einem Eckpfeiler machen, nachdem die Gräuel des Dritten Reiches gezeigt hatten, dass der Schutz der Menschenrechte auf innerstaatlicher Ebene nicht genügt. Aufgrund dieses Gedankens wurde der Europarat 1949 gegründet, eine Organisation zum Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Kurz nach seiner Gründung begann der Rat mit der Ausarbeitung der EMRK. Diese wurde am 4. November 1950 von den zehn Gründungsländern unterzeichnet; am 3. September 1953 trat sie in Kraft. Mittlerweile haben 47 Länder die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert – sie bietet somit über 800 Millionen Menschen Schutz. Die Schweiz ratifizierte die Konvention 1974, nachdem mit der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen im Jahr 1971 das wichtigste Argument gegen den Beitritt verfiel.
Die Konvention hat sich seit den 1950er-Jahren weiterentwickelt. In mittlerweile 16 Zusatzprotokollen (ZP) wurde die Konvention etwa um weitere Menschenrechte ergänzt. Das Zusatzprotokoll 13 zum Beispiel verbietet die Todesstrafe sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten. Zwei solche rechtserweiternden Zusatzprotokolle hat die Schweiz weder ratifiziert noch unterzeichnet: das allgemeine Diskriminierungsverbot, das seit 2005 in Kraft ist (ZP 12), und das Zusatzprotokoll 4, welches seit 1968 in Kraft ist und unter anderem die Kollektivausweisung von Ausländern verbietet. Weitere Zusatzprotokolle dienten dazu, die Verfahren und die Organisation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) anzupassen. Dieser hat 1959 seine Arbeit als teilzeitliches Gericht aufgenommen und wurde mit dem 11. Zusatzprotokoll reformiert: Seit 1998 ist der EGMR ein ständiger Gerichtshof. Bis Ende 2013 fällte der EGMR knapp 17 000 Urteile, davon die meisten (15 889) zwischen Anfang 2000 und Ende 2013, wie das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) schreibt. Ende Juni 2014 warteten 88 550 Beschwerden aus ganz Europa, darunter 445 Fälle aus der Schweiz, auf ihre Behandlung.
Laut der Informationsplattform Humanrights.ch trifft der EGMR nur in 3 von 200 Fällen einen anderen Entscheid, als das höchste Gericht des jeweiligen Landes. Laut Geschäftsbericht des Bundesgerichts fällte der EGMR 2013 1210 Entscheide zur Schweiz, in gerade einmal 9 Fällen wurde die Schweiz verurteilt. Dennoch sind die Urteile wegweisend für die weitere Rechtsprechung in Europa und in der Schweiz.
So etwa im Fall der «administrativen Verwahrung»: Bis 1981 konnten in der Schweiz Leute mit «liederlichem Lebenswandel» oder «Arbeitsscheue» in Anstalten eingewiesen werden – ohne Gerichtsverhandlung. Tausende leiden noch heute an den Folgen. Weil diese Praxis gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit der EMRK verstiess, wurden die Bestimmungen in der Schweiz geändert.
Der kürzlich gegründete Verein «Dialog EMRK» startete gestern die Kampagne «Schutzfaktor M», um über den Schutz von Menschenrechten zu informieren. Am Dienstag veranstaltet die Hochschulgruppe Luzern von Amnesty International an der Universität Luzern eine Podiumsdiskussion. Unter dem Titel «Wer bestimmt, was Recht ist?» soll die SVP-Volksinitiative «Zur Umsetzung von Volksentscheiden – Schweizer Recht geht fremdem Recht vor» beleuchtet werden.
Hinweis
Weitere Infos zur Podiumsdiskussion unter amnestystudentsluzern.ch
Dokument: Den gesamten Text der Konvention finden Sie auf www.luzernerzeitung.ch/bonus
Aleksandra Mladenovic