Die Bundesanwaltschaft verzichtet auf eine Anklage wegen Kriegsverbrechen gegen den früheren algerischen Verteidigungsminister Khaled Nezzar. Die Folteropfer fechten die Einstellung aber an.
Balz Bruppacher
Der Entscheid kommt überraschend: Während fünf Jahren hat die Bundesanwaltschaft (BA) gegen den ehemaligen algerischen Generalstabschef und Verteidigungsminister wegen Kriegsverbrechen ermittelt. Nun stellt sie das Strafverfahren aber ein, obwohl das Bundesstrafgericht und das Bundesgericht entschieden hatten, dass sich Khaled Nezzar nicht auf seine Immunität berufen kann. Die Bundesanwaltschaft begründete dies gestern mit den gesetzlichen Grundlagen und der Rechtsprechung im Völkerstrafrecht.
Die Nichtregierungsorganisation Trial hatte Anfang 2011 zusammen mit vier mutmasslichen Opfern Anzeige gegen Nezzar erstattet. Dem heute 79-Jährigen wird vorgeworfen, während des algerischen Bürgerkriegs in den Jahren 1992 bis 1999 massive und systematische Folterungen, Morde und Zwangsverschleppungen angeordnet beziehungsweise dazu angestiftet oder sich in anderer Weise daran beteiligt zu haben.
Der Konflikt, der Zehntausende von Opfern forderte, war ausgebrochen, nachdem die algerische Regierung den Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) von Ende 1991 für ungültig erklärt hatte. Die Armee zwang den Präsidenten zum Rücktritt. Ein Hoher Rat wurde eingesetzt, dem auch Nezzar angehörte. Dieser wurde im Januar 2011 bei einer polizeilichen Vorführung in Genf mit den Vorwürfen konfrontiert und seither zwei weitere Male von der Bundesanwaltschaft einvernommen. Nezzar bestreitet die Vorwürfe.
Die Bundesanwaltschaft konzentrierte sich vor allem auf die Foltervorwürfe und hörte dazu mehrere Zeugen an. «Ihre Aussagen waren durchaus glaubwürdig», sagte BA-Kommunikationschef André Marty. Die Bundesanwaltschaft stellte an Algerien unter anderem auch ein Rechtshilfegesuch, das jedoch unbeantwortet blieb. Juristisch stellte sich das Problem, dass die Strafbestimmungen des sogenannten Römer Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof – darunter Folter – erst 2011 in Kraft traten und nicht rückwirkend anwendbar sind. Die BA musste deshalb den Umweg über das frühere Militärstrafrecht einschlagen, das die Verletzungen von internationalen Abkommen wie der Genfer Konventionen unter Strafe stellt.
Voraussetzung ist allerdings, dass ein bewaffneter Konflikt vorliegt. Hier kam die Bundesanwaltschaft zum Schluss, dass die gemäss Rechtsprechung geltenden Hauptkriterien für einen solchen Konflikt im Zeitraum 1992 bis 1994 für Algerien nicht erfüllt seien. Es geht laut Marty vor allem um den Organisationsgrad der Konfliktparteien sowie um die Intensität des Konflikts, das heisst um die Frage, ob Frontlinien und kontrollierte Territorien bestanden und ob schwere Waffen wie Artillerie und Panzer zum Einsatz kamen.
Weil diese Schwelle in Algerien nicht erreicht worden sei, habe man das Verfahren am 4. Januar eingestellt, sagte der Sprecher. Die Bundesanwaltschaft begrüsse es aber, dass die Angelegenheit wegen des inzwischen eingereichten Rekurses vom Bundesstrafgericht beurteilt werde. Denn es handelt sich um den ersten Fall eines Völkerstrafrechtsverfahrens der BA. «Wir sind sehr an einer Klärung interessiert, weil es in diesem Bereich an der Rechtsprechung fehlt», sagte Marty. Er räumte auch ein, dass man aus dem Fall Lehren ziehen werde. So sei die Frage berechtigt, warum man die Voraussetzungen des bewaffneten Konflikts nicht zu Beginn des Verfahrens abgeklärt habe.
Bei der Bundesanwaltschaft sind rund 20 Fälle hängig, die das Völkerstrafrecht betreffen, darunter solche wegen Verdachts auf Kriegsverbrechen in Syrien. Die Organisation Trial bezeichnete die Verfahrenseinstellung als unverständlich. Von einer «Beleidigung der Folteropfer dieses schmutzigen Kriegs» sprach der Anwalt der Privatkläger.