Klub der jungen Geschichten
Der Kranich

Mila Gisler, Cham, 2. Kanti

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Ich warf der Obdachlosen zwei Franken in den Hut, der vor ihr lag. Was dann geschah, gab mir auf ganz besondere Weise viel mehr zurück.

Niedergeschlagen ging ich die Strasse entlang. Mein schokoladenbraunes Haar klebte mir nass im Gesicht, und der Regen prasselte mir erbarmungslos entgegen. Der heutige Tag lief wie immer: Ich wachte auf, machte mich bereit für die Schule, verliess das Waisenhaus und verbrachte den Tag alleine in der letzten Bankreihe, bis ich wieder zurück nach «Hause» ging. Meine Tränen vermischten sich mit dem Regen, der mir rücksichtslos entgegenschlug. Schon mein ganzes Leben war ich alleine gewesen. Meine Eltern waren in einem Autounfall gestorben, das ist jedenfalls das, was mir das Betreuungspersonal erzählt hatte. Und weder im Waisenhaus noch in der Schule fand ich Anschluss. Was würde ich dafür geben, meine Eltern zu sehen, in ihren Armen zu sein in Situationen wie diesen, in denen man sich einfach nur miserabel fühlt.

Ich beschloss, unter einer Bushaltestelle Schutz vor dem Regen zu suchen, als mein Blick auf eine alte Frau fiel, die ebenfalls auf das Vorbeiziehen der dicken, grauen Wolken hoffte. Sie hatte graues Haar und trug einen roten Mantel, der mit vielen bunten Stoffen geflickt war. Ich schätzte sie so um die 70. Ich hatte sie schon oft in dieser Gegend gesehen, wie sie jedem, der vorbeilief, ein freundliches Lächeln zuwarf, und wie ihre Augen immer voller Lebensfreude leuchteten, trotz der Lage, in der sie war. Wir standen eine Weile still nebeneinander. Keiner von uns sagte ein Wort, doch die Stille war angenehm. Die Zeit verging, der Himmel begann sich aufzuhellen und ein paar Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken.

Ich griff in meine Manteltasche, holte zwei Franken heraus und legte sie in den Hut, der vor der Frau auf dem Boden lag. «Wie ist dein Name, Kind?», fragte sie. «Luisa», antwortete ich, und sie nahm meine Hände in ihre: «Was auch immer dich beschäftigt, alles wird gut werden. Auch wenn sie nicht mehr unter uns sind, werden sie immer über uns wachen.» Ich schaute sie verwirrt an, was sie mit einem warmen Lächeln erwiderte. Ihre Hand ging zu ihrer Tasche. Sie holte einen gefalteten Kranich hervor und drückte ihn mir in die Hand. Ich dankte ihr, verabschiedete mich und setzte meinen Heimweg fort. Verwundert musterte ich die gefaltete Figur in meiner Hand. Sie war nicht aus Papier. Es sah aus wie… ein Foto?!

Vorsichtig entfaltete ich den Kranich und betrachtete das Bild, das zum Vorschein kam. Darauf waren ein Mann, eine Frau und ein Baby. Auf dem Gesicht des Vaters war ein stolzes Grinsen, während die Mutter liebevoll auf das Kind in ihren Armen herabschaute. Beide Elternteile besassen schokoladenbraunes Haar und dunkle Augen. Ich betrachtete das Kind und sah, das es ein Feuermal an der linken Schläfe hatte. Ich fasste mir ins Gesicht und berührte mein eigenes, welches ich an der gleichen Stelle hatte. Auf den zweiten Blick fiel mir auf, das mir die Frau auf dem Foto sehr ähnlich sah. Auch beim Mann konnte ich gewisse Gemeinsamkeiten erkennen. Konnte es sein das..?

Abrupt drehte ich mich um und rannte in Richtung Bushaltestelle. Konnte es sein, dass dies meine Eltern waren? Dort angekommen suchte ich verzweifelt nach der Frau. Sie war nirgends mehr zu sehen. Ich durchsuchte die Gegend, fragte Passanten nach einer Frau mit geflicktem roten Mantel, doch niemand schien sie gesehen zu haben. Erschöpft setzte ich mich auf eine Strassenbank und blickte in den Himmel: Mittlerweile hatten sich alle Wolken verzogen und ein wunderschöner Regenbogen zierte ihn. «Auch wenn sie nicht mehr unter uns sind, werden sie immer über uns wachen», wiederholten sich die Worte der Frau in meinem Kopf. Ich atmete tief ein und schloss die Augen, als mir ein Lächeln über die Lippen huschte.