Klub der jungen Geschichten
Das Vermächtnis des Diamantvogels

Vivienne Renggli, Emmenbrücke, 6. Primar

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Ich stieg in den Keller. Dort schien ein Licht aus dem Schrank, den seit Ewigkeiten niemand mehr geöffnet hatte. Fassungslos verharrte ich auf der Kellertreppe. Ein Licht? In einem alten Schrank? Halluzinierte ich? Nein, es kroch tatsächlich ein schmaler Strahl silberhelles Licht aus der halbgeöffneten Tür des Schrankes. Ich riss mich zusammen. Ich war doch kein Angsthase. Mit gestrafften Schultern und hocherhobenem Haupt ging ich zum Schrank. Meine Finger umschlossen den kühlen Messinggriff. Ich öffnete die Tür ganz.

Ehrlich gesagt, ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon gehabt, was mich erwarten würde. Aber mit dem, was auf einem staubigen roten Samtkissen inmitten des Schrankes lag, hatte ich echt nicht gerechnet. Es war ein faustgrosses Medaillon, von dem das Leuchten ausging. Es bestand aus angelaufenem Silber und war mit filigran gearbeiteten, verschnörkelten Linien verziert. Mit klopfendem Herzen öffnete ich das Medaillon. Darin befand sich ein leuchtender, fingernagelgrosser Diamant in Form eines Vogels. Der Vogel schien aus purem Licht zu bestehen. Plötzlich zuckten die kleinen Flügel des Vogels. Reflexartig zog ich die Hand zurück. Doch anstatt klirrend auf dem Boden zu landen, begann der Vogel zu flattern. Zuerst schwankte er unsicher durch die Luft, dann flog er flink in Richtung Tür. Ohne zu zögern, rannte ich ihm hinterher. Durchs Haus, hinaus auf die Strasse zu einem schmalen Feldweg, der von Wiesen gesäumt war. Ich wusste nicht, wohin der Pfad führte, doch ich wollte den Vogel nicht einfach wegfliegen lassen.

Nach zehn Minuten schien der Vogel langsam erschöpft zu sein. Er flog unsicherer. Instinktiv streckte ich die Hand aus und der Vogel landete kraftlos auf meiner Handfläche. Die Mittagssonne brannte inzwischen heiss vom Himmel. Erst jetzt konnte ich den Vogel genauer betrachten. Die Sonnenstrahlen brachen in seinem schimmernden Vogelkörper. Vorsichtig strich ich mit dem Zeigefinger über das schimmernde Federkleid des Diamantvogels, das sich zu meiner Überraschung sehr echt anfühlte. Der kleine Vogel zwitscherte vergnügt. «Du bist ja süss», hauchte ich. In diesem Moment erhob sich der Vogel wieder und flatterte weiter.

Ich betrat ein kleines Wäldchen. Die Bäume spendeten angenehmen Schatten. Plötzlich lichteten sie sich und gaben den Blick auf ein grosses Schloss frei, dass auf einem grasbewachsenen Hügel thronte. Ein Schloss? Hier? Davon wusste ich nichts. Der Vogel zwitscherte aufgeregt und flog los. Ich hatte Mühe, bei dem Tempo, dass der Vogel jetzt eingeschlagen hatte, Schritt zu halten. Ich erklomm den Hügel. Der Vogel klopfte mit dem Schnabel gegen die Flügeltür, die daraufhin aufschwang. In der Tür stand ein älterer Mann. «Willkommen meine Dame. Sie werden bereits erwartet», begrüsste er mich. Er deutete mir, einzutreten. Ich hatte nicht wirklich Zeit, mich im Schlosshof umzusehen, denn der alte Mann ging schnurstracks auf eine unscheinbare Holztür zu. Er führte mich durch lange Gänge, die mit roten Teppichen ausgelegt waren.

Dann betraten wir einen grossen Saal, indem eine gebrechliche alte Dame auf einem goldenen Thron sass. «Da bist du ja», rief die Frau erfreut. Der Vogel flog auf die ausgestreckte Hand der Frau zu. «Was ist hier eigentlich los?», fragte ich. «Lass es mich dir erklären; ich warte schon seit hundert Jahren auf diesen Tag, an dem mein Diamantvogel erwacht. Er wird seit Generationen von meiner Familie angefertigt und ist dazu bestimmt, alle hundert Jahre zu erwachen und mit dem ältesten Mitglied der Familie zu sterben.» «Aber, dann sterben sie? Und ich gehöre zu ihrer Familie?», unterbrach ich ihre Erzählung. «Jaja. Du bist meine Urenkelin. Und deine Familie ist schon dabei, deinen Diamantvogel herzustellen.» Fassungslos beobachtete ich, wie der Diamantvogel zu leuchten begann. Meine Urgrossmutter schloss ihre Augen und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen fiel sie in den ewigen Schlaf.