Klub der jungen Geschichten
Der Zettel

Jara Bertschi, Eich, 6. Primar

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Ich stieg in den Keller. Dort schien ein Licht aus dem Schrank, den seit Ewigkeiten niemand mehr geöffnet hatte. Der Schrank verband schon damals unseren mit dem Nachbarskeller. Ich schaltete das Licht wieder aus. Plötzlich stand ich auf einem Zettel. Ich hatte gedacht, ich würde ihn nie wieder finden, doch da war er, als hätte ich ihn nie gesucht. Verwirrt und zugleich erfreut stieg ich die Kellertreppe hinauf.

Ich setzte mich auf meinen Lieblingssessel im Wohnzimmer und sah meiner Enkelin Lori tief in die Augen. «Willst du das wirklich wissen? Es ist kein Märchen mit Happyend.» Sie nickte und nahm auf unserer Couch Platz. «Wie oft habe ich mir gewünscht, diese Entscheidung rückgängig machen zu können. Aber hätte ich es wirklich getan?», sagte ich und begann zu erzählen.

Meine beiden Brüder, meine Mutter, mein Vater und ich lebten in einem grossen Haus. Ich war 13, als dies alles geschah. Ich ging für meine Familie einkaufen. Auf dem Heimweg lief ich an einer Gasse vorbei, als mich plötzlich jemand am Arm packte und in eine Nebengasse zog. Ich versuchte mich zu wehren, aber als ich den Mann, der mich noch immer festhielt, anschaute, und er mit seinen verweinten Augen in meine sah, hörte ich auf, mich zu wehren. Er zog mich schleppend hinter sich her und wir liefen immer weiter in die Nebenstrasse, bis er eine Tür öffnete und mit mir im Eingang stehen blieb. Er liess meinen Arm los und bot mir sogar die Möglichkeit zu gehen. Doch ich hatte keine Angst vor ihm, vielleicht weil er mir so verängstigt vorkam, dass ich gar nicht darüber nachdachte, was er mir hätte tun können.

Ich folgte ihm. Ich war nun in einem dunklen Raum. Ich konnte nicht sagen, wie gross er war, denn ich sah absolut nichts. Plötzlich erschien ein schwaches, flackerndes Licht. Ich sah die Umrisse von drei Personen. Der Mann, der neben einer Frau stand, die wiederum ein Mädchen an der Hand hielt. Ich war unglaublich verwirrt. «Wer seid ihr und warum bin ich hier? Was wollt ihr von mir?» Die Frau begann zu sprechen: «Bitte hilf uns!» Sie machte ein paar Schritte auf mich zu und ich erkannte einen Judenstern auf ihrer Jacke. Jetzt wusste ich, was sie wollten und warum sie Hilfe brauchten. Sie brauchten Unterschlupf, ein Versteck. Ich wusste, dass das verboten war, nur noch nicht, was es für Folgen haben konnte. Ich nahm sie mit zu mir nach Hause. Ich konnte die Verzweiflung in den Augen meiner Mutter sehen, als ich mit ihnen vor unserer Tür stand, doch wegschicken wollte sie sie auch nicht.

In unserem Keller stand schon damals dieser Schrank, in dem sie sich von diesem Tag an versteckten. Von den sonst schon knappen Lebensmitteln sparte sich jeder aus meiner Familie noch einen Teil für die Familie im Keller auf.

An jenem Montag, nachdem neue Einkaufsmarken verteilt worden waren und unsere Vorräte knapp waren, ging ich los, um einzukaufen. Auf dem Rückweg sah ich schon von weitem, dass unsere Haustür weit offenstand. Beim Gedanken daran, was sehr wahrscheinlich passiert war, gefror mir das Blut in den Adern. Ich durchsuchte unser Haus und mein Verdacht bestätigte sich. Sie waren alle weg und es war meine Schuld, ich hatte meine Familie in diese Situation gebracht! Ich war nun ganz allein und das war alles mein Verschulden! Der Zettel mit der Aufschrift «Wir lieben dich über alles, mein Schatz, geh und such Tante Gudrun» wird mich für immer daran erinnern.