Klub der jungen Geschichten
Weniger ist mehr

Manuel Gasser, Baar, 6. Klasse

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„Ich warf der Obdachlosen zwei Franken in den Hut, der vor ihr lag. Was dann geschah, gab mir auf ganz besondere Weise viel mehr zurück.“ Dies war der Satz, der mein Leben veränderte. In den Gassen der Stadt Zug wimmelte es nur so von Leuten, doch alle liefen an der alten, durchnässten obdachlosen Frau vorbei und motzten über irgendwelche Dinge, die ich früher ebenfalls als “schlimm“ bezeichnet hätte. Doch als ich ihr dankbares Lächeln sah, für alberne zwei Franken, erstarrte ich. Wir jammerten, obwohl wir zu viel hatten, trotzdem wollten wir mehr. Für mich war der Zweifränkler Kleingeld, das ich loswerden wollte, schwerer als eine 100er-Note. Doch für diese Frau war das der pure Luxus. Sie freute sich darauf, jetzt dann gleich vielleicht ein überteuertes Weggli oder Wasser kaufen zu können.

Dieses schöne Gefühl, jemandem eine Freude zu machen, die länger währt als die eines Kindes, das ein überteuertes Spielzeug geschenkt bekommt. Nun verstand ich die Weisheit “Weniger ist mehr“. Anstatt sich bei jemandem über meine kaputte Duschbrause zu beklagen, packte mich der Drang, andere Leute darauf hinzuweisen, wie verwöhnt wir waren! Nun liess ich meinen Gefühlen freien Lauf. Ein Mann diskutierte darüber, dass er zwei Franken weniger im Monat verdiente. Aufgebracht mischte ich mich ein: «Du motzt, weil du zwei Franken weniger verdienst?! Diese obdachlose Frau ist glücklicher als du, obwohl du etwa 7000.- Franken verdienst. Sie freut sich über jeden Rappen und du reklamierst, weil du nicht 7002.- Franken verdienst. Verwöhntes Schwein.»

Immer mehr Leute blieben stehen, hörten zu. Bald war meine Stimme das einzige Geräusch auf dieser Strasse. Viele Leute schauten betroffen auf den Boden, manche zu mir. Einer überwand sich und gab der Frau einen Fünffränkler. Immer mehr erwachten aus ihrer Starre und griffen nach ihren Brieftaschen. Plötzlich beklagten sich die Leute nicht mehr, sondern redeten darüber, wie viel sie nicht brauchten. Bald wurden aus diesen 7 Franken 50, 100, immer mehr, bis das Geld den Hut überquillte. Alles war in diesem Stapel vorhanden, von Fünfrappenstücken bis zu 100er-Noten. Nun liefen alle durch die Stadt Zug und sprachen im Sprechgesang: «Weniger ist mehr.»

Die alte Frau sass da und sagte: «Ich betete jeden Abend, dass Gott mir irgendwann ein Geschenk machen würde. Aber dieses Geschenk ist zu gross für mich. Möchten sie ein bisschen?» Als Antwort leerte ich meine Brieftasche über den Geldhaufen und liess sie sitzen. Nun wusste sie, wie es war, viel Geld zu haben. Man kaufte sich mehr und wurde unzufriedener. Oder man wusste, wie man glücklich sein konnte, auch mit wenig Geld. Zu welchen der zwei Sorten wird sie wohl jetzt gehören? Ich weiss es nicht.