30. JAHRESTAG: Als der Block Z zur Todesfalle wurde

Beim Europa-cup-Final zwischen Juventus Turin und FC Liverpool sterben 39 Menschen. Die Tragödie hat den Fussball nachhaltig verändert. Oliver Kehrer war im Stadion und erinnert sich.

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Eine Aktion, die viel zu spät kam: Die überforderte Polizei greift ein und trennt die Liverpool- von den Juventus-Fans. AFP (Bild: AFP)

Eine Aktion, die viel zu spät kam: Die überforderte Polizei greift ein und trennt die Liverpool- von den Juventus-Fans. AFP (Bild: AFP)

Stefan Klinger

Dieses eine Bild wird Oliver Kehrer nie wieder vergessen. Es ist der 29. Mai 1985, als der damals 21-Jährige mit seinem Kollegen im Brüsseler Heysel-Stadion den Block M betritt. Etwa 30 Minuten vor dem geplanten Anpfiff erreichen die beiden unparteiischen, fussballbegeisterten Touristen aus der Schweiz voller Vorfreude jene Stehplätze, von denen aus sie den Final im Europacup der Landesmeister zwischen Juventus Turin und FC Liverpool anschauen möchten. Was sie in diesem Moment noch nicht ahnen: Sie werden in den nächsten Sekunden eine Szene erblicken, die sich für immer in ihr Gedächtnis brennt:

«Das Stadion war zu diesem Zeitpunkt schon sehr voll – aber auf der anderen Seite war ein Loch. Und vor diesem Loch lagen viele Leute auf der Tartanbahn», beschreibt Kehrer.

Erst im Hotel das Ausmass realisiert

Heute ist er 51 Jahre alt und Leiter der Schulverwaltung in Kriens. Natürlich kennt er inzwischen längst das Ausmass des Dramas, das sich an jenem Tag abspielte, weiss von den 39 Toten und über 500 Verletzten. Entsprechend nachdenklich und ruhig geht Kehrer den Stapel an entwickelten Bildern durch, die er damals vor dem Match in der Stadt und am nächsten Tag am Ort der Katastrophe geschossen hat. Er steckt in einem Zwiespalt der Gefühle. Eigentlich dominierten bei ihm persönlich an jenem Tag ja lange die positiven Emotionen.

Denn so wirklich einordnen konnten die beiden, die damals in der gegenüberliegenden Stadionkurve standen, das Szenario, dieses Loch mitten in der Zuschauermenge, nicht. Weil bisher an diesem schönen Sommertag doch alles so nett und fröhlich verlaufen war und sie gar mit zahlreichen sympathischen Liverpool-Fans in Brüssel Schnappschüsse hatten machen können und sich von deren Begeisterung hatten anstecken lassen. Weil sie das bis ins Mark durchdringende Geräusch einer einstürzenden Betonmauer nicht gehört hatten. Weil es im Stadion nur ganz wenige Durchsagen gab und schon gar keine, die auf eine Katastrophe hingedeutet hätten. Und vor allem weil es noch kein Handy und kein Internet gab, über das die beiden heutzutage blitzschnell informiert werden würden.

Schwarzmarkt führt zum Drama

«Wir haben gemerkt, dass da irgendetwas nicht stimmt. Es hatte sich ja auch der Matchbeginn verzögert», erinnert sich Kehrer, «aber wir hatten zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, was das für ein Ausmass hat, und waren froh, als es dann endlich losging.» Erst Stunden später, als sie im Hotel den Fernseher anschalteten und erfuhren, dass Kehrers besorgte Mutter bereits in der Unterkunft angerufen und den Filius um einen dringenden Rückruf gebeten hatte, wurde ihnen die wirkliche Tragweite des Dramas bewusst.

Eines Dramas, zu dem es kam, weil der Match in einem verrotteten Stadion stattfand, die Sicherheitskräfte überfordert und die Einlasskontrollen unzureichend waren und besonders die Liverpool-Anhänger den ganzen Tag über viel Alkohol getrunken hatten. Tragische Aspekte, die in der Summe zu einem explosiven Gemisch führten.

Was dieses allerdings entzündete: Der Block Z, in dem es zur Katastrophe kam und der direkt neben dem Block der Liverpool-Fans lag, war eigentlich als neutrale Zone, als Stehplätze für unparteiische Fussballfans vorgesehen. Doch ein korrupter Funktionär, der die Tickets nicht an neutrale Fans, sondern an italienische Reisebüros verkauft hatte, und der Schwarzmarkthandel sorgten dafür, dass dieser Sektor fest in Juventus-Hand war. Also standen italienische Fans direkt neben Liverpool-Anhängern. Und das alles nur ein Jahr nachdem beim Final in Rom Liverpool-Fans von Roma-Hooligans mit Steinen beworfen und mit Messern attackiert worden waren.

Und so kam es an jenem verhängnisvollen Tag in jener Kurve schon lange vor dem Anpfiff zu gegenseitigen Beleidigungen, es flogen die ersten Steine. Doch weil die Polizei zunächst nicht einschritt, der Einsatzleiter mit einem Diebstahl an einem Wurststand beschäftigt war und den Block Z vom Liverpool-Block nur ein kleiner, dürftiger Zaun trennte, eskalierte die Situation.

Liverpool-Fans stürmen Juve-Block

Die Engländer stürmten den Block der Juve-Fans und lösten eine Massenpanik aus. Zahlreiche Menschen wurden so sehr gegen eine Betonmauer, die den Block Z auf der anderen Seite begrenzte, gequetscht, dass diese einstürzte und einige Menschen unter sich begrub. Die Sicherheitskräfte versuchten zwar noch das Tor zum Spielfeld hin zu öffnen, doch da war es bereits zu spät.

Einige Minuten später drängten die Offiziellen die Spieler beider Klubs, trotz allem den Match zu bestreiten. Aus Angst davor, dass im Falle einer Absage alles noch schlimmer werden würde, wie der damalige Juve-Profi Michel Platini in seiner Biografie detailliert beschreibt: «Um 20 Uhr kommt ein Vertreter des Europäischen Fussballverbandes in die Kabine. Er fragt uns: ‹Seid ihr bereit zu spielen?› Einige Spieler verneinen. Er dreht sich zu ihnen und sagt: ‹Wenn ihr nicht spielt, gibt es da draussen nicht 30 Tote, sondern 100.›»

Die schwierigste Entscheidung seines Lebens sei das dann gewesen, schreibt Platini. Er und die anderen hätten lange gehadert. Liverpools damaliger Goalie Bruce Grobbelaar veranschaulichte die Gefühlswelt der Sportler kürzlich im Interview mit dem Fussballmagazin «11 Freunde»: «Natürlich kannten wir die Wahrheit, als das Spiel begann. Natürlich wussten wir, dass es Tote gegeben hatte. Wir hatten sie ja mit eigenen Augen gesehen. Aber was wäre sonst auf den Strassen los gewesen? Daran wage ich nicht zu denken.»

Juve-Spieler feiern Sieg dennoch

Das mag nachvollziehbar sein. Wenn man allerdings sieht, wie sich der gefoulte Juve-Spieler Zbigniew Boniek freut, als Juve den entscheidenden Penalty zugesprochen bekommt, oder wie Platini jubelt, nachdem er diesen Penalty zum 1:0-Sieg verwandelt hat, wirken diese Sportszenen angesichts der vielen Toten dennoch befremdlich.

Oliver Kehrer hatte damals schlichtweg grosses Glück, dass er auf der anderen Seite des Stadions gestanden hatte. Doch trotz seiner Unversehrtheit hat dieser Tag den noch immer fussballbegeisterten Familienvater nachhaltig verändert. «Ich gehe nach wie vor gerne ins Stadion», sagt er, «aber ich nehme jetzt immer einen Sitzplatz.»

Relikte eines historischen Ereignisses: Oliver Kehrer zeigt sein Ticket und die Aufstellung. (Bild: Stefan Klinger / Neue LZ)

Relikte eines historischen Ereignisses: Oliver Kehrer zeigt sein Ticket und die Aufstellung. (Bild: Stefan Klinger / Neue LZ)

Eine belgische Zeitung titelt am Tag danach: «Der totale Gräuel». (Bild: «Het Laatste Nieuws»)

Eine belgische Zeitung titelt am Tag danach: «Der totale Gräuel». (Bild: «Het Laatste Nieuws»)