In seinem ersten WM-Spiel überhaupt hat Manuel Akanji (22) die Fussball-Welt beeindruckt. Sein steiler Aufstieg ist bemerkenswert. Wie ist es dazu gekommen?
Manuel Akanji sitzt auf einer kleinen Empore in der Eishalle von Toljatti, vor sich einige Mikrofone. Die Halle im Ort der Schweizer Team-Basis ist umfunktioniert zum Presseraum. Akanji wirkt gelassen und lehnt sich zurück. Natürlich geht es um Fussball an diesem Morgen. Es geht um die Nachbetrachtung zu Schweiz – Brasilien. Und vor allem um Akanji selbst.
Der 22-Jährige zeigte gegen den Rekordweltmeister eine herausragende Partie. Wobei: «Stimmt nicht ganz, 75 Minuten waren gut, danach sind mir einige kleine Fehler unterlaufen, das hat mich gestört», sagt er. Nervosität vor seinem ersten WM-Einsatz? «Das fragten meine Familie und meine Freunde auch die ganze Zeit. Ich sagte dann immer: vielleicht, wenn wir zum Stadion fahren. Aber nein, ich habe mich ausschliesslich aufs Spiel gefreut.»
Michelle (28) und Sarah (25) Akanji sitzen an einem kleinen runden Tisch an der Bye Bye Bar am Flughafen Zürich. Der Cappuccino ist ein Genuss. Es ist Dienstagabend. In wenigen Minuten fliegen die beiden Schwestern in Richtung Fussball-WM. Sie unterstützen ihren Bruder morgen im Stadion von Kaliningrad. Vorher nehmen sie sich Zeit, um über die Karriere von Manuel zu reden. Sie betrachten den Fussball aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Sarah, die Jüngere, spielt selbst Fussball. Einst mit St. Gallen in der NLA. Dann wurde sie gestoppt von einer Hüftoperation. Doch die Leidenschaft Fussball blieb. In Winterthur hat sie aus dem Nichts ein Frauen-Team gegründet. Soeben ist der zweite Aufstieg in Serie, in die 1. Liga, geglückt. Sie sagt: «Natürlich beobachte ich Manuel sehr genau. Aber ich habe auch ein Auge für taktische Aspekte im Spiel.»
Michelle lebt den Fussball hingegen nicht ganz so ausgeprägt. Sie arbeitet in der Kommunikation, hat ein grosses Herz für Kultur. Früher war sie eine aktive Leichtathletin. Sie sagt lachend: «Ich sehe nie einen Fehler bei Manuel. Ich bin total parteiisch und völlig emotional.» Die Nervosität vor den Spielen ist aber kein bisschen geringer. «Wir waren zum Essen eingeladen während der Partie Schweiz – Brasilien. Sobald es los ging, brachte ich keinen Bissen mehr runter.»
Wenn die beiden Schwestern über ihren Bruder sprechen, wird ihr Stolz schnell offensichtlich. Auf ihn, mit dem sie so viele Stunden zu Hause verbracht haben, sind jetzt ziemlich viele Kameras gerichtet. «Ein bisschen fremd wirkt er durch die Kamera schon», sagt Michelle. Sarah ergänzt: «Wir merken, dass er nicht immer ganz frei antworten kann, aber authentisch bleibt er doch: Sein freches Grinsen ist uns wohlbekannt.»
Akanji hat die ganz grosse Bühne in einem rasanten Tempo erklommen. Sommer 2015, Wechsel von Winterthur nach Basel. Einige Spiele. Dann der herbe Rückschlag: Kreuzbandriss. Die Verletzung macht Akanji nur noch stärker, vor allem mental. Er startet beim FCB durch. Die Nati ruft. Début im Juni 2017 auf den Färöern. Seither: 8 Einsätze, 6 Mal spielt die Schweiz zu null, dazu die beiden 1:1 gegen Spanien und Brasilien. Es ist eine Traum-Bilanz.
Georg Heitz war FCB-Sportchef, als der Ligakrösus Akanji verpflichtete. «Dass er viel Talent hat, erkannte man ziemlich schnell. Da war ich beileibe nicht der Einzige.» Viel Talent heisst? Heitz: «Eine spezielle Dynamik. Er drischt die Bälle nicht einfach weg, sondern spielt sie gepflegt raus. Dazu ist er intelligent, hat ein gesundes Selbstbewusstsein, das frei von Überheblichkeit ist. Und einen bemerkenswerten Ehrgeiz.» Als Akanji von seiner Knieverletzung zurückkam, sei er fitter gewesen als zuvor.
Jetzt spielt dieser Manuel Akanji, 22-jährig erst, im Nationalteam. «Er wirkt, als hätte er bereits 100 Länderspiele absolviert», sagt Heitz. Und erinnert noch einmal an die besonderen Anforderungen heutzutage, welche die Fussballwelt an einen Innenverteidiger stellt. «Er muss der erste Spielmacher sein. Schnell sein. Übersicht haben. Zweikampfstark sein.» Wenn Heitz Akanji gegen Brasilien spielen sieht, fällt ihm nur ein Wort ein: «herausragend».
Wie gehen die beiden Schwestern damit um, dass ihr Bruder in einer Fussballwelt gelandet ist, die manchmal auch schrill und gross daherkommt, in einem Business auch, über dessen Geldbeträge manch einer nur noch den Kopf schüttelt? «Gewisse Summen sind teilweise schon schockierend», sagt Sarah Akanji, «Neymar kostet 222 Millionen Franken. Das kann man sich nicht mehr vorstellen.» Michelle Akanji ergänzt: «Irritierend ist für mich, wie häufig schlicht mit Potenzialen gehandelt wird.» Das dürfte mit Manuel Akanji nicht anders sein. Im Winter hat ihn Borussia Dortmund für 25 Millionen Franken verpflichtet. Wenn er so weiterspielt, dürfte irgendwann ein weiterer Transfer anstehen, bei dem der Preis noch einmal massiv höher ist.
Als Manuel Akanji kurz vor der Abreise nach Russland in Lugano 15 Minuten lang bereitwillig Auskunft gibt über seine Saison, merkt der Zuhörer schnell: Da ist einer am Reden, der sich Gedanken macht. Der eloquent und intelligent ist. Der sich nicht scheut, Dinge konkret beim Namen zu nennen. Nur einmal echauffiert er sich kurz. Als die Frage kommt, was ihm die Nationalhymne bedeutet. «Warum ist das in der Schweiz so wichtig?», fragt er. Er fragt das nicht, weil er einen Angriff auf sich selbst vermutet. Sondern, weil er sich wünschen würde, dass auch in der Schweiz endlich ausschliesslich der Fussball im Mittelpunkt stehen würde.
Michelle und Sarah Akanji finden es wichtig, über das Thema Hymne zu reden. «In der Schweiz fehlt ein Diskurs über Nationalstolz», sagt Michelle. «Man sollte darüber diskutieren können – und verhindern, dass Stimmen des Frusts ein Übergewicht bekommen.»