BILANZ: Gian Gilli: «Bei den Frauen haben wir uns stark gesteigert»

Bei seinen letzten Olympischen Spielen als Chef de Mission zieht Gian Gilli eine positive Bilanz – nicht nur wegen der Medaillenausbeute. Trotzdem äussert er sich aber auch warnend zur Zukunft.

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Sie zahlte die Förderung im Projekt «Women on the podium» mit Gold zurück: Snowboarderin Patrizia Kummer, Siegerin im Parallel-Riesenslalom. (Bild: AP/Andy Wong)

Sie zahlte die Förderung im Projekt «Women on the podium» mit Gold zurück: Snowboarderin Patrizia Kummer, Siegerin im Parallel-Riesenslalom. (Bild: AP/Andy Wong)

Was Gian Gilli (56) künftig macht, weiss er noch nicht. Fest steht nur: Er verlässt Swiss Olympic, sein Nachfolger bei den Spielen 2016 ist der frühere Spitzencurler Ralph Stöckli. Nachfolgend Gillis Fazit zu den Spielen von Sotschi.

  • Gian Gilli über die Medaillenausbeute und die Bewertung der einzelnen Disziplinen:

Die sportliche Ausbeute ist grundsätzlich sehr positiv. Aufgrund einer Einschätzung unseres Potenzials wollten wir hier zehn Medaillen holen – und haben nun elf. Im Eishockey hatten wir keine Medaille eingeplant, da liegen wir über den Erwartungen. Ich bin ganz speziell begeistert von der Frische und der Passion für die Mission bei den jungen Frauen. Andererseits war das frühe Aus der Männer enttäuschend. Aber das ebenfalls sehr frühe Aus der Russen zeigt, wie eng zusammengerückt das Leistungsniveau im Eishockey ist. Im Curling hatten wir eine Medaille geplant. Es wird sicher hart für das Team von Mirjam Ott, zu verarbeiten, dass es wie 2010 wieder nur Vierte wurde. Das junge Männerteam hat hier Lehrgeld bezahlt.

Im Ski alpin sind wir von zwei Medaillen ausgegangen, nun haben wir drei. Im Langlauf haben wir mit einer Medaille gerechnet. Dario Cologna hat uns gleich zwei beschert – das war eine fantastische Leistung einer ausserordentlichen Persönlichkeit. Im Biathlon hatten wir mit keiner Medaille geplant und haben nun eine dank der ganz tollen Leistung von Selina Gasparin – Respekt!

Ebenfalls eine mehr als geplant haben wir im Snowboard alpin. Hier hat mich vor allem beeindruckt, dass Patrizia Kummer die Saison dominiert, zwei kleine und die grosse Kristallkugel gewinnt und hier dann auch noch eine Medaille holt – das ist ganz grosse Klasse. Bei den Freestylern hatten wir uns mehr erwartet, da sind wir von drei Medaillen ausgegangen, vor allem von den Skicrossern hatten wir uns mehr erhofft. Und für den Bobsport war es wichtig, dass wir hier gezeigt haben, dass der Bobsport lebt und Beat Hefti nach dem Nuller von Vancouver hier eine Medaille holt.

  • Gian Gilli über die sportliche Bilanz insgesamt und das starke Abschneiden der Schweizer Frauen:

Neben den Medaillen haben wir 26 Diplome geholt und standen elfmal auf Rang neun oder zehn. Das zeigt auch noch einmal ganz deutlich die Qualität dieser Delegation, weil wir in diesen beiden Bereichen auch besser sind als vor vier Jahren in Vancouver. Der Wintersport in der Schweiz lebt. Auffällig dabei ist, dass wir hier fünf Medaillen durch Frauen holen, in Vancouver war es nur eine einzige. Zudem haben wir bei 58 gestarteten Frauen 29 Top-10-Plätze geholt, das ist eine starke Steigerung. Gerade bei den Frauen haben wir in den letzten vier Jahren grosse Fortschritte gemacht. Da zahlt sich das Projekt «Women on the podium» aus. (Anmerkung: Bei diesem Projekt wurden neben der Frauen-Eishockeynationalmannschaft 13 ausgewählte Einzelathletinnen, die im Hinblick auf die Spiele von Sotschi über Medaillen- oder Diplompotenzial verfügten, zwei Jahre lang spezifisch gefördert. Darunter war zum Beispiel die Snowboard-Olympiasiegerin Patrizia Kummer. Die Athletinnen wurden sowohl finanziell als auch fachlich unterstützt, je nach ihrem individuellen Bedarf an ergänzenden Leistungen, damit sie sich optimal auf Olympia 2014 vorbereiten konnten.)

  • Gian Gilli über die Rahmenbedingungen bei den Spielen von Sotschi:

Bei diesen Spielen stand der Athlet im Mittelpunkt, und das haben die Sportler ganz deutlich gespürt. Für die Athleten waren es super Bedingungen. So gab es ausser für die Bobfahrer und Skispringer praktisch keine Transportzeiten zu den Trainings- und Wettkampfstätten. Bei anderen Spielen waren dagegen auch mal 90 Minuten Fahrzeit keine Seltenheit. Dadurch haben die Athleten viel Energie gespart. Zudem waren die Sicherheitskontrollen so super gestaltet, dass die Athleten nie anstehen mussten und sie immer auf junge, freundliche und Englisch sprechende Volunteers getroffen sind. Das alles hat viel Hektik vermieden. Und ich möchte auch noch ein Kompliment an die Organisatoren aussprechen: All die Sicherheitsbedenken im Vorfeld waren hier überhaupt kein Thema. Ausserdem haben sie sich sehr lernfähig gezeigt. Wenn ein Transport nicht geklappt hat und wir uns darüber beschwert haben, lief ab dem nächsten Tag immer alles tipptopp – das war auch nicht immer so.

  • Gian Gilli über die Zukunft des Schweizer Wintersports:

Der Schweizer Wintersport ist auf einem guten Weg, aber es braucht weiter grosse Anstrengungen, damit wir dieses Niveau halten oder sogar verbessern können. Wir müssen die Infrastruktur im Wintersport verbessern. Da brauchen wir konkurrenzfähige Half­pipes sowie bewässerte und vor allem auch beleuchtete Skipisten. Es muss uns gelingen, gute Schneetrainingsmöglichkeiten – unabhängig von der Uhrzeit – zu erschaffen, für die die Sportler keine grossen Wege auf sich nehmen müssen. Wir müssen die Umfelder der Athleten professionalisieren. In Bezug auf die finanzielle Situation, in Bezug auf die Arbeits- oder Ausbildungssituation und in Bezug auf die Situation in der Regenerationszeit. Wir müssen also Anreize schaffen, dass die Athleten Eigenmotivation – für mich die grösste Qualifikation und auch die bedeutendste auf dem Weg nach oben – entwickeln.