BOXEN: Fury macht den Champion lächerlich

Auf ihn hat keiner gewettet, der ein Experte sein will – doch nun ist Tyson Fury Weltmeister! Er hat den grossen Wladimir Klitschko gedemütigt und entthront.

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War es ein Abgang für immer? Wladimir Klitschko zieht im Düsseldorfer Fussballstadion gezeichnet von dannen, im Hintergrund bejubelt Tyson Fury seinen sensationellen WM-Sieg. (Bild: Getty/Lars Baron)

War es ein Abgang für immer? Wladimir Klitschko zieht im Düsseldorfer Fussballstadion gezeichnet von dannen, im Hintergrund bejubelt Tyson Fury seinen sensationellen WM-Sieg. (Bild: Getty/Lars Baron)

Der grosse Bruder las Wladimir Klitschko gehörig die Leviten. «Keine Kondition, keine Technik. Von seinem Potenzial war nicht viel zu sehen.» Mit süsssaurem Lächeln im geschundenen Gesicht hörte sich der von Tyson Fury sensationell entthronte Champion die geharnischte Kritik Vitali Klitschkos an. Es war weit nach Mitternacht, als der ehemalige Weltmeister und amtierende Bürgermeister von Kiew auf der Pressekonferenz sogar gewisse Zweifel an der sportlichen Zukunft des 39-jährigen Bruders durchklingen liess.

Denn es wird eine vertraglich vereinbarte Revanche geben. Vitali Klitschko kündigte zwar einen dann «wahnsinnig interessanten Kampf» an. Und: «Ich traue Wladimir zu, dass er zurückkommt. Da kann er zeigen, dass er nur einen schlechten Tag hatte.» Der ältere Klitschko sagte aber auch: «Oder gibt es andere Gründe? Kommt er wieder in Form? War die Niederlage heute kein Zufall?»

Wladimir, seit elfeinhalb Jahren in 22 WM-Kämpfen unbesiegt, über dem Zenit? Als er wie gewohnt an den vier Ringpfosten hochkletterte und ins Publikum winkte, wirkten die Gesten wie ein Abschied. Vitali hätte an diesem desaströsen Klitschko-Abend vor 50 000 sprachlosen Besuchern in der Düsseldorfer Fussball-Arena und vor knapp zehn Millionen Fernsehzuschauern diesen riesigen Hampelmann wohl kurzerhand k. o. geschlagen.

Klitschko fand kein Rezept

Das hatte auch Wladimir Klitschko im Sinn, fand aber keine Mittel – und suchte sie auch nicht entschlossen –, diesen trotz seiner 2,06 Meter schnellen und beweglichen, die Auslage wechselnden, ständig provozierenden, herumalbernden und durch den Mundschutz quasselnden Hünen empfindlich zu treffen. Es muss eine Demütigung für den seit über einem Jahrzehnt so souveränen Champion gewesen sein, als Fury beide Fäuste mehrmals über dem verlängerten Rücken kreuzte und dem erschreckend gehemmten Adonis den Kopf hinstreckte.

Wladimir Klitschko hatte an diesem Abend gegen den in der Reichweite für ihn ungewohnt bevorteilten Herausforderer einfach keine Bereitschaft zur Überwindung. Null Risiko. Wladimir wagte nicht den erforderlichen halben Schritt nach vorn, um die Distanz zu überwinden, um mit seinem linken Jab und folgender Rechten den Gegner unter Druck zu setzen und zu treffen. Beim Schlussgong wusste Wladimir Klitschko sofort: «Ich habe es nicht geschafft.» Die vierte Niederlage im 68. Kampf. Im Spiegel habe sein Gesicht «nicht so schön ausgesehen».

Besseres Schattenboxen

Das Punkte-Urteil für den aktiveren Fury war einstimmig, trotz eines Punktabzugs in der elften Runde wegen mehrerer Schläge auf den Hinterkopf: Zweimal 115:112, einmal 116:111. Fury wurde dreifacher Weltmeister (WBA, WBO, IBF) im Schwergewicht –nicht weil er so gut, sondern weil der Titelverteidiger so schlecht war. Die magere Trefferstatistik von 86:52 für Fury belegt, dass dem Publikum bis auf die letzten beiden Runden besseres Schattenboxen geboten wurde. Wladimir Klitschko gab sich als fairer Verlierer. «Tyson war besser und sehr schnell mit seinen Händen und seinen Bewegungen des Körpers. Ich habe nie die richtige Distanz gefunden. Ich will nicht weiter in Details gehen. Die Lehren werden wir später ziehen.»

Ex-Champion Lennox Lewis, der als TV-Kommentator wie auch sämtliche Medien Fury «keine Chance» eingeräumt hatte, zählte die Mängelliste seines Favoriten auf: «Als Wladimir in den Ring kam, war er schon ziemlich verkrampft, so, als hätte er zu viel mit Gewichten gearbeitet. Wie viele Schläge zum Körper haben wir gesehen? Keinen. Wie viele rechte Schläge haben wir gesehen? Die kannst du an einer Hand abzählen.»
Trainer-Diskussion ist lanciert

Lewis erinnerte an den gemeinsamen Trainer. «Emanuel Steward hätte zu Wladimir gesagt: ‹Was machst du denn da? Warum lässt du den wieder in den Kampf zurückkommen? Du bist doch der Champion, du hast die Erfahrung, du musst den Kampf diktieren und dominieren!›» Aber Emanuel Steward ist seit drei Jahren tot, und das wirft nun die Frage auf: Ist der ehemalige Sparringpartner Jonathon Banks der richtiger Trainer?

Fury kann auch sympathisch sein

Nach all dem «trash talk» (Müllgeschwätz) erlebte man den «Gypsy Warrior» mit all den Gürteln auf einmal als angenehm, ja sogar sympathisch. Noch im Ring sang Fury seiner Frau als Ständchen «I don’t want to miss a thing». Am Vortag hatte der Familienvater – auf seiner Hose trug er die Namen seiner Kinder Prince und Venezuela – erfahren, dass ein drittes Kind kommen wird. Keine Party. Der Engländer bekannte sich als «erster irischer Champion» zu den Wurzel seiner Familie, den Irish Travellers. Der Rückkampf sei für ihn Ehrensache. Schon aus Respekt vor Wladimir Klitschko: «Wenn ich als Champion nur halb so gut bin wie Wladimir, dann werde ich glücklich sein.»

Hartmut Scherzer, Düsseldorf