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«Der Sturz von Marc hat vieles erschüttert» – Michelle Gisin zum vorzeitigen Saisonende

Michelle Gisin startete vielversprechend in den Winter. Dann schüttelte ein schlimmer Sturz ihres Bruders die Familie durch. Sie sagt, das habe enorm viel Kraft gekostet. Nun verpasst sie die WM wegen einer Verletzung.

Claudio Zanini
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Michelle Gisin mit ihrem stabilisierten Bein am Dienstagnachmittag im Engelberger Hotel Bellevue. Bild: Boris Bürgisser (Engelberg, 29. Januar 2019)

Michelle Gisin mit ihrem stabilisierten Bein am Dienstagnachmittag im Engelberger Hotel Bellevue. Bild: Boris Bürgisser (Engelberg, 29. Januar 2019)

Anfang Dezember 2018, ein Freitagabend in St. Moritz: Michelle Gisin redet in einem Hotel über ihren Saisonstart und blickt voraus auf den Heimweltcup. Hinter ihr liegen erfolgreiche Tage in Nordamerika. In beiden Abfahrten von Lake Louise erreichte sie das Podest, in Killington wurde sie Fünfte im Slalom. In der Gesamtwertung ist Mikaela Shiffrin zwar schon entrückt, aber Gisin belegt den zweiten Platz. Sie hat sich vorgenommen, in diesem Winter so gut wie alle Rennen zu bestreiten.

Gisin strotzt vor Selbstvertrauen, gibt kluge Antworten und nimmt sich Zeit für Fans – mit 2000 Autogrammkarten ist sie angereist. An diesem Freitagabend scheint es keine Grenzen zu geben für Michelle Gisin. Knapp zwei Monate später, Ende Januar in Garmisch-Partenkirchen. Michelle Gisin merkt beim Abbremsen im Zielraum nach dem Super-G, dass etwas mit ihrem Knie nicht stimmt. Die Kamera ist auf sie gerichtet, deshalb lässt sie sich nichts anmerken. Denn sie will niemanden beunruhigen, speziell ihre Mutter nicht.

Als das TV-Bild die nächste Fahrerin zeigt, humpelt Gisin durch den Zielraum, verzerrt das Gesicht. Jasmine Flury tröstet sie, klopft ihr auf die Schultern. Stunden später heisst es, Gisin werde die Abfahrt am nächsten Tag nicht bestreiten können. Noch ein Tag vergeht, bis die befürchtete Meldung eintrifft: Gisin muss die Saison abbrechen. Ihr rechtes Knie hat während dem Rennen Schläge kassiert. Eine Knorpelschädigung und eine Kreuzbandzerrung sind die Folge.

Am Dienstagnachmittag sitzt Gisin wieder in einem Hotel, diesmal in ihrem Wohnort Engelberg. Das Knie der 25-Jährigen ist bandagiert, das Bein hochgelagert. Sie hat sich entschieden, die Verletzung nicht konservativ zu behandeln. Sie wird sich nächste Woche einem Eingriff unterziehen und damit die WM in Åre verpassen. Es ist ein Entscheid mit Blick Richtung Zukunft. «Eine Operation ist langfristig die beste Lösung. Es wäre nicht klug gewesen, etwas zu riskieren», sagt sie.

Bild: Boris Bürgisser (Engelberg, 29. Januar 2019)

Bild: Boris Bürgisser (Engelberg, 29. Januar 2019)

Auch ihr Arzt Lukas Weisskopf, der schon Schwester Dominique betreute, habe ihr von der konservativen Behandlungsmethode abgeraten. Sie sagt: «Es wäre möglich gewesen, an der WM schmerzfrei am Start zu stehen. Aber das heisst noch lange nicht, dass man Leistungen auf WM-Niveau bringen kann.»

«Uns hat das ausgesaugt»

Die Dramaturgie von Gisins Saison ist besonders. Eine Woche nach St. Moritz stürzt ihr Bruder Marc fürchterlich in Gröden. Drei Tage später fährt sie auf derselben Piste die Abfahrt, am Tag danach den Super-G. Doch die Batterien sind leer, sie legt eine Pause ein, lässt vier Rennen aus. «Der Sturz von Marc hat vieles erschüttert. Das alles mitzuerleben, diese Angst auch, das braucht enorm viel Kraft. Uns hat das ausgesaugt, die ganze Familie.»

Marc ist auf dem Weg der Besserung, letzte Woche konnte er bereits die Krücken weglegen. Nach ihrer Auszeit habe sie nicht mehr mit dem nötigen Killerinstinkt fahren können, sagt sie. «Ich habe probiert auf beiden Beinen dazustehen, wie ein Fels, aber es ging nicht.» Sie glaube, ihre fehlenden Reserven hätten auch den Puffer verkleinert, der einen vor Blessuren schützt. «Doch wenn das der Preis ist, den wir zahlen müssen, dass es Marc wieder besser geht, dann bin ich vollkommen einverstanden damit.»

Im Gegensatz zur dramatischen Saison steht Gisins nüchterner Auftritt in Engelberg. Eine WM zu verpassen sei zwar schade, aber in diesem Jahr habe sie den Fokus ohnehin mehr auf die Weltcup-Wertungen gelegt. Und wichtige Medaillen hat sie ja schon: WM-Silber, Olympiagold – beides in der Kombination. Innerhalb von zwei Monaten ist die Welt von Michelle Gisin eine andere geworden. Und am Ende ist es eine ziemlich profane Verletzung, die ihr eine Grenze setzt.