EISHOCKEY: Jesse Zgraggen vor wegweisender Saison

Jesse Zgraggen geht mit Ambri in die zweite Saison. Der Verteidiger mit Urner Wurzeln muss nun zeigen, dass er sich auf höchstem Niveau durchsetzen kann.

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Symbole der Heimat seiner Eltern: Jesse Zgraggen posiert in Ambri vor einem Car seines Namensvetters aus Uri. (Bild: Freshfocus/Pius Koller)

Symbole der Heimat seiner Eltern: Jesse Zgraggen posiert in Ambri vor einem Car seines Namensvetters aus Uri. (Bild: Freshfocus/Pius Koller)

Sven Aregger

An diesem Spätsommerabend Anfang September macht Jesse Zgraggen einen aufgeräumten Eindruck. Er sitzt vor der Eishalle in Biasca, trägt ein rotes Shirt, lange Sporthosen und das Käppi wie so oft verkehrt herum. Das Training ist für heute beendet. Zgraggen spricht kurz mit Goalie Sandro Zurkirchen, trinkt einen Schluck aus der Wasserflasche und sagt dann in englisch gefärbtem Schwyzerdütsch: «Ich bin voll in Ambri angekommen und freue mich riesig auf die neue Saison.»

Jesse Zgraggen, 22 Jahre, 90 Kilo, 185 Zentimeter, ist vor einem Jahr von der höchsten Juniorenliga Kanadas zum HC Ambri-Piotta gestossen. Der Donatoren-Club HCAP hatte den Transfer eingefädelt, er beteiligt sich auch an der Finanzierung des Spielers. Es ist eine Verpflichtung mit Kalkül: Zgraggen soll eine Identifikationsfigur für die vielen Urner Ambri-Fans werden. Seine Eltern, die nach Kanada auswanderten, sind Urner. Zgraggen wuchs mehrheitlich in der kanadischen Provinz Alberta auf. Nach dem Unfalltod des Vaters kehrte die Familie vorübergehend zurück nach Flüelen, Zgraggen war damals noch ein Kind. Seit er bei Ambri spielt, besucht er wann immer möglich seine Verwandten ennet dem Gotthard. «Dann gibt es immer etwas Gutes zu essen», erzählt der kanadisch-schweizerische Doppelbürger mit einem Schmunzeln.

Vertrag läuft am Saisonende aus

Doch die Gelegenheiten für solche Besuche sind rar. Zgraggen fokussiert sich auf seine Karriere als Eishockeyprofi in der Schweiz. Hier ist vieles anders als in Nordamerika: mehr Taktik, weniger Forechecking, eine grössere Eisfläche. «Ich wusste, dass es schwierig wird», erinnert sich Zgraggen an seine erste Saison. «Ich musste zuerst lernen, wie das Stellungs- und Umschaltspiel auf europäischem Eis funktioniert.»

Auch die Fankultur war neu für ihn. Die Anhänger in Kanada neigen weniger zu Gefühlsausbrüchen auf den Rängen. In Ambri dagegen sind sie so laut, dass Zgraggen die Mitspieler auf dem Eis akustisch kaum versteht. «Die Fans sorgen immer für grossartige Stimmung und stehen auch hinter uns, wenn es nicht läuft», schwärmt Zgraggen.

Besonders angetan hat es ihm aber die altehrwürdige Valascia: «Ein halb offenes Stadion mit so viel Charme habe ich im professionellen Eishockey noch nie gesehen. Kein gegnerisches Team spielt gern in Ambri bei minus 20 Grad.»

In der vergangenen Saison war die Valascia aber keine uneinnehmbare Bastion, die die Gegner das Fürchten lehrte. Nach einem gründlich missglückten Start verpasste Ambri die Playoffs. Die Spieler hätten ihre Lehren daraus gezogen, versichert Zgraggen, «niemand hatte Spass an den Playouts. Wir wollen es jetzt besser machen und von Anfang an bereit sein. Nur wenn wir jedes einzelne Spiel ernsthaft angehen, haben wir eine Chance auf die Playoffs.»

Auch persönlich hat sich Zgraggen einiges vorgenommen. Noch ein Jahr läuft sein Vertrag, Was darüber hinaus geschieht, ist offen. Trainer Serge Pelletier sagte im Sommer: «Jesse hat grosse Fortschritte gemacht. Ich bin glücklich mit seiner Entwicklung.» Doch Zgraggen weiss, dass er ab sofort nicht mehr den Bonus des jungen Neulings hat. Er muss beweisen, dass er zu Recht in die NLA gehört. Auschlaggebend sei, dass er seinen Job seriös erledige und möglichst wenig Fehler mache, sagt er. «Wenn ich gut verteidige, steigt das Vertrauen des Trainers. Und dann erhalte ich mehr Eiszeit und somit wieder mehr Selbstvertrauen.»

Mit Stanley-Cup-Sieger trainiert

Der Donatoren-Club HCAP glaubt an die Fähigkeiten des Mannes mit Urner Wurzeln. «Ich bin überzeugt, dass sich Jesse durchsetzen kann», sagt Präsident Michael Gisler, «er ist ein solider Verteidiger, gut in der Spielübersicht und hart an der Bande.» Gisler hofft, dass Zgraggen an die starken Leistungen in den Playouts anknüpfen kann: «Im Verlauf der letzten Saison ist er immer besser in Fahrt gekommen.» Das verdeutlichen auch die Zahlen: Verzeichnete Zgraggen in 28 Qualifikations­spielen nur zwei Assists, waren es in zwölf Playout-Partien deren vier. Auf sein erstes Tor wartet er noch. «Beim Schiessen und Skating kann sich Jesse sicher noch weiterentwickeln», meint Gisler.

Wie man Tore schiesst, konnte sich Zgraggen im Sommer vor Augen führen. Während der Ferien in seiner kanadischen Heimat trainierte er mit NHL-Stürmerstars wie Kris Versteeg von Stanley-Cup-Sieger Chicago Blackhawks oder Rob Klinkhammer von den Edmonton Oilers. «Das sind absolute Profis und sympathische Typen, von denen ich viel profitieren konnte», sagt Zgraggen. Auch mit seinen Ambri-Mitspielern versteht er sich gut. Vor kurzem zügelte er von Airolo nach Bellinzona, wo die meisten Teamkollegen wohnen. «Oft unternehmen wir etwas zusammen und können auch über andere Themen reden als Eishockey. Es ist manchmal wichtig, abschalten und entspannen zu können.»

Auch während des Gesprächs vor der Eishalle in Biasca verströmt Jesse Zgraggen die Gelassenheit des nonchalanten Nordamerikaners. Umso entschossener klingen seine Abschiedsworte: «Wenn die Saison beginnt, bin ich hundertprozentig bereit.»