Der Sieg gegen die Türkei ist eine riesige Befreiung. Der Frust und Schmerz der letzten Woche ist fürs erste vergessen. Die Frage lautet: Ist jetzt sogar Träumen erlaubt?
Plötzlich liegt ein Hauch von Magie über Baku. Die Schweizer Nati rauscht über den Rasen. Haris Seferovic und Xherdan Shaqiri schiessen wunderbare Tore. Yann Sommer fliegt herrlich durch die Luft. Die Schweizer Fussballer grätschen. Sie zeigen Lust am Leiden. Und vor allem siegen sie: 3:1 steht es am Ende gegen die Türkei. Es hätte auch ein 5:1 oder 6:2 werden können. Damit ist schon vieles gesagt über dieses Endspiel, in dem es um so viel ging. Die Nati präsentiert sich von einer ganz anderen Seite als noch am letzten Mittwoch, als es gegen Italien dieses schmerzhafte 0:3 absetzte.
Magie? Ja, das ist ein grosses Wort. Und mehr als ein Hauch ist es nicht. Die Schweizer haben noch einige Luft nach oben. Aber das muss im Hinblick auf den EM-Achtelfinal ja kein Nachteil sein. Der Sieg von gestern ist eine riesige Befreiung. Frust und Schmerz der letzten Woche sind fürs erste vergessen. Stattdessen darf der Blick vorwärts gehen. Die Frage lautet: Ist jetzt sogar Träumen erlaubt?
Noch ist die Qualifikation für den Achtelfinal nicht zu 100 Prozent gesichert. Weil die Schweiz die Gruppenphase wegen der schlechteren Tordifferenz als Wales auf Rang 3 abschliesst, muss sie noch warten. Bis spätestens am nächsten Mittwoch, dann sind alle Vorrundenspiele zu Ende gespielt. Die vier besten Gruppendritten sind ebenfalls im Achtelfinal. Aber es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn die Schweiz mit ihren vier Punkten am Ende doch noch ausscheidet.
Die ersten beiden Spiele der Nati an dieser EM, gegen Wales und Italien, setzten das ganze Land in Aufregung. Kein Feuer, keine Leidenschaft – keine Chance. Dafür allzu viele Nebenschauplätze. Die Schweizer Spieler wurden nicht müde, zu betonen, dass sie das alles ziemlich kalt lässt. Sie versprachen eine Reaktion. Und Nationaltrainer Petkovic schrieb im Fazit seines offenen Briefs in dieser Zeitung: «Wir werden alles dafür tun, dass wir uns am Sonntagabend alle gemeinsam freuen können. Dass wir zusammen stolz sein können. Auf unsere Nati und auf unsere Schweiz!»
Ja, die Nati darf stolz sein auf diese Reaktion. Es war eine ganz andere Körpersprache zu sehen auf dem Platz. Viel mehr Emotionen. Viel mehr Leidenschaft. Da waren Nati-Spieler am Werk, die im Stolz verletzt waren. Und die nicht zerbrachen, obschon der Druck mit dem vorzeitigen Out vor Augen riesig war. Es ist zu hoffen, dass dies so bleibt. Zudem ist Spielern wie Trainer zu wünschen, dass sie begreifen, dass es niemandem darum geht, diese Mannschaft kaputt zu machen, wenn die Kritik gerade wieder einmal laut ist. Sondern, dass das Interesse an der Nati ein Zeichen ist dafür, wie sehr sie den Schweizerinnen und Schweizern am Herzen liegt. Die letzten Tage zeigten: Dieses Team lässt niemanden kalt.
Nein, es war nicht alles gut gegen die Türkei. Aber was zählt, ist das Lob für eine tolle Teamleistung. Wie schon an der WM 2014 haben die Schweizer bewiesen, dass sie Entfesselungskünstler sind. Damals standen sie nach einem 2:5 gegen Frankreich auch vor dem Abgrund. Sie rafften sich auf, besiegten Honduras 3:0 und liessen eine herausragende Leistung gegen Argentinien folgen, die nur knapp nicht belohnt wurde. Was damals Ottmar Hitzfeld gelang, hat nun auch Vladimir Petkovic geschafft. Er hat die Schweiz – aller Voraussicht nach – bei seinem dritten Turnier zum dritten Mal in den Achtelfinal geführt. Diese Leistung verdient Respekt.
Doch der Hunger ist noch nicht gestillt. Hoffentlich hat die EM für die Schweiz jetzt so richtig begonnen.