Lino Martschini war letzte Saison der beste NLA-Skorer mit Schweizer Pass. Für den EV Zug aber ist Martschini mehr als nur Goalgetter, er ist Aushängeschild, Identifikationsfigur – und Hoffnungsträger.
Nicola Berger
Es hat etwas Romantisches, wenn ein bunt zusammengewürfeltes Sportpublikum sich einen Individualisten zum Liebling kürt, ihm ein eigenes Lied widmet. Es gibt nicht mehr viele Akteure, denen diese Ehrerbietung zuteil wird. Vielleicht, weil die Identifikation fehlt, weil es im kühl kalkulierten Geschäft des Profisports keinen Sinn mehr für Gefühlstiefe gibt oder weil die Stadien heute voll mit Eventfans sind, denen die Spielernamen nicht mehr geläufig sind, wer weiss das schon. In der Zuger Nordkurve wird dieser Tage nur Lino Martschini (22) ein spezifischer Text gewidmet; aus Hunderten Kehlen ertönen dann die Zeilen: «Lino allez, Lino allez, mir wänd de Chübel i de Händ vom Lino gseh.» Dass es sich bei Martschini um den derzeit populärsten EVZ-Profi handelt, liess sich auch an der Auktion der Vorsaison ablesen: Martschinis Tenü brachte über 1000 Franken ein, in diese Sphären stiess kein Teamkollege vor.
Auf den ersten Blick lässt sich die Zuneigung des Anhangs für Martschini leicht erklären: Er ist ein aufregender Spieler, der trickreich über das Eis flitzt und auch einmal eine Partie im Alleingang entscheiden kann. Sein Linienkollege Josh Holden formuliert es so: «Martschini ist einer jener Spieler, für die ich selber ein Ticket kaufen würde. Davon gibt es nicht viele.»
Das Sportliche ist der eine Aspekt, der rationale. Denn die Verehrung ist auch anders zu begründen. Die Familie Martschini ist mit dem Klub verbunden, emotional, seit vielen Jahren schon. Vater Peter stürmte 1984/85 in der NLB für den EVZ, es folgte der Übertritt von Sohn Luca, heute 27, dem der Durchbruch indes verweigert blieb und der heute beim EHC Sursee aktiv ist. Die Geschichte hätte hier enden können, zwischen dem EVZ und dem Martschini-Clan. Aber Lino, der jüngste Sprössling, war angefixt von diesem archaischen, wilden, rasanten Sport und setzte sich früh in den Kopf, dereinst Profi werden zu wollen. Die Chancen standen schlecht: Lino war begabt, flink und beweglich, aber in jedem Team der Kleinste, was kein Vorteil ist im Eishockey. Martschini blieb unbeirrt, andere Sportarten interessierten ihn nicht. Als er einmal zu einem Eiskunstlauf-Training eingeladen wurde, sagte er später zu Hause, es habe ihm nicht gefallen; Puck und Stock hätten gefehlt. Er ging kein zweites Mal hin.
In jungen Jahren wechselte Martschini vom HC Luzern nach Zug. Auf der Nordrampe der alten Hertihalle besuchte er fast jedes Heimspiel, weil die Junioren ein Gratis-Stehplatz-Abo erhielten. Er verehrte die Granden von damals: Chris Tancill, Kamil Piros, Patrick Fischer. Die Schlachtrufe, die er heute als Spieler aus der Fankurve empfängt, kennt er seit Jahren auswendig – er hat sie einst selber skandiert.
Martschini steht am Ufer des Zugersees und sagt: «Es ist schon speziell, dass mir heute Leute zujubeln. Es war so lange umgekehrt.»
Martschinis Aufstieg im EV Zug ist ein Rührstück, wie es im modernen Sport fast nicht mehr vorkommt, was einer der Gründe dafür sein dürfte, dass Fans und Profisportler sich immer mehr entfremden.
Bei Martschini wird sich am neuen Status quo jedoch so schnell nichts ändern – gerade hat der Flügelstürmer einen lukrativen Vertrag unterschrieben, der ihn bis 2020 an den EVZ bindet. Im Klub steigt er damit zum Grossverdiener auf, was nur konsequent ist. Der Sportchef Reto Kläy sagt: «Er ist ein Franchise Player.» So heissen im Jargon die Aushängeschilder eines Klubs, sie sind eine rare Spezies.
Doch vielleicht hätte man schon im Januar 2011 wissen müssen, dass aus Lino Martschini dereinst ein aussergewöhnlicher Spieler erwächst. Kurz nach der Jahreswende war der heutige CEO und damalige Sportchef Patrick Lengwiler eigens nach Peterborough, Ontario, gereist, in diese Kleinstadt in der Peripherie zwischen Toronto und Ottawa. Die Reise hatte nur einen Zweck: Lengwiler wollte Martschini davon überzeugen, zum EVZ zurückzukehren.
Der Vorgang war unüblich, nie hat ein EVZ-Verantwortlicher eine Dienstreise in vergleichbarer Mission angetreten – nicht als Alessio Bertaggia nach Zug kam, 2013, und auch nicht 2014, als die Heimkehr des NHL-Drafts Fabrice Herzog im Raum stand. Doch Lengwiler sagt: «Besondere Spieler erfordern besondere Aktionen.» Der Klubchef berichtet von langen Gesprächen mit einem zwiegespaltenen Martschini, von bohrenden Fragen auch. Setzt der Trainer wirklich auf mich? Ist es für meine Entwicklung nicht besser, ein drittes Jahr in Kanada zu absolvieren?
Lengwiler vermochte die Zweifel zu zerstreuen, Martschini unterschrieb einen Zweijahresvertrag. Seither wirkt sein Aufstieg kometenhaft: In der Debütsaison 2012/13 wurde er nach 44 Skorerpunkten in 53 Partien zum «Youngster of the Year» gewählt, im Winter 2014/15 schwang er sich zum besten Schweizer Skorer der Liga auf – vor etablierten Elitespielern wie Wick, Plüss, Sprunger oder Suri. Damit traf ein, was der frühere NHL- und heutige Lugano-Angreifer Damien Brunner bei seinem Abgang zu ihm gesagt hatte: «Jetzt machst eben du die Tore.»
Aber man fragt sich: Geht das ewig so weiter? Oder besteht das Risiko, dass Martschini abhebt? Er wäre nicht der erste Jüngling, dem Ruhm und Erfolg zu Kopf steigt. Teamkollege Holden wiegelt ab. Er sagt: «Lino ist ein kein Partylöwe, sondern ein gewissenhafter Arbeiter. Es ist bemerkenswert, wie reif er für sein Alter ist.» Und auch CEO Lengwiler sieht keine Gefahr. Er sagt: «Lino ist ein feiner Mensch, ein seriöser Profi.» Für den Klubchef ist Martschini darum mehr als bloss ein Torjäger und Publikumsmagnet. Er ist auch der ideale Botschafter für die Klubphilosophie des EVZ, der sich mit der ambitionierten «The Hockey Academy» ja als Ausbildungsverein profilieren möchte. Lengwiler kommt zu dieser Einschätzung, weil Martschinis Werdegang eines signalisiert: Alles ist möglich.
Denn während seiner ganzen Nachwuchslaufbahn hatte Martschini gegen Stereotypen ankämpfen müssen. Auf jeder Juniorenstufe gab es Exponenten, die Martschini wegen dessen Körpermassen (1,68 Meter, 65 Kilo) die Tauglichkeit für den Eishockeysport absprachen.
Martschini, das ist bemerkenswert, liess sich von den Voten nicht beeindrucken – und setzte sich überall durch. Er sagt: «Ich musste früh lernen, meine körperlichen Defizite zu kompensieren. Mit Schnelligkeit und Spielübersicht, beispielsweise.»
Und auch mit der Disziplin, die ihm früh eingeimpft worden ist von Grossvater Ludek, der 2014 verstorbenen Trainer-Ikone im Kunstturnen. Ludek war einst aus der Tschechoslowakei in die Schweiz geflohen; er galt als Mann der alten Schule und drillte auch Lino. Der sagt: «Die Trainings waren oft hart. Aber ich habe stark profitiert, gerade was die Beweglichkeit betrifft.»
Die ist heute eine seiner grössten Trümpfe, weil sie ihm immer wieder erlaubt, Gegnern die Beine zu verknoten. Die Frage ist, ob ihm das auch international gelänge, an der WM oder in Nordamerika, wo die Sitten rauer und der Platz weniger ist. Martschini zweifelt selber daran und möchte an Muskelmasse zulegen, um an Explosivität zu gewinnen. Er sagt: «Ein paar zusätzliche Kilos würden mir nicht schaden.»
Martschinis Vorbild ist Johnny Gaudreau, der typengleiche Angreifer der Calgary Flames. Er orientiert sich am Amerikaner, weil das der nächste Schritt auf der Karriereleiter sein soll: die NHL. Im neuen Vertrag wurde eine entsprechende Ausstiegsklausel verankert, und im kommenden Herbst, das ist der Plan, möchte Martschini ein NHL-Trainingscamp bestreiten; sein Agent hat die Aufgabe, eine Einladung zu organisieren. Martschini sagt: «Als kleiner Junge habe ich mir zu Hause Wayne-Gretzky-Videos in Endlosschlaufe angeschaut. Die NHL ist ein grosser Traum, aber das ist sehr weit weg.» Die Konzentration, sagt er, gehöre aktuell nur dem EVZ. Auf den ersten Blick klingt das wie eine dieser Sportlerfloskeln, die man sich täglich auf allen Kanälen anhören muss.
Aber dann erinnert man sich, dass die Aussage von Lino Martschini kommt. Jenem Burschen, der seinen Sport und seinen Klub im Herzen trägt. Und der sich nichts mehr wünscht, als den Fans ihre im rhythmischen Singsang geäusserte Sehnsucht zu erfüllen: eines Tages mit dem Meisterkübel in den Händen vor der Nordkurve zu stehen.