Hinter Corsin Camichel (34) liegen bewegte Zeiten. 2011 besiegte er den Krebs, dieses Frühjahr verlor er seinen Bruder Duri. Ein Gespräch über den Sinn des Lebens, Trauer und die Unterhaltungsindustrie Profisport.
Ein Nachmittag im September, über Rotkreuz ergiessen sich Regenschauer. Corsin Camichel sitzt in einem Café und redet zweieinhalb Stunden lang über alles Erdenkliche: alte Anekdoten, ehemalige Weggefährten. Er lacht viel und oft. Auch dank dem Eishockey ist sein Leben reich an wunderbaren Reminiszenzen. Er war 13 Jahre lang als NLA-Profi aktiv, brachte es bis in die Nationalmannschaft (drei Einsätze) und fand Freundschaften fürs Leben.
Ernst wird die Unterhaltung, als Camichel über die Schicksalsschläge in seiner Familie spricht. 2011 erkrankte er, damals Spieler des EV Zug, an Lymphdrüsenkrebs. Er besiegte den Krebs, doch 2006 hatte er seinen Vater Werner – 1974 in Sapporo Olympiasieger im Viererbob – an die Krankheit verloren. Am 28. April dieses Jahres verstarb sein jüngerer Bruder Duri mit 32 Jahren bei einem Autounfall in Costa Rica. Das Unglück sorgte weitherum für Betroffenheit. Im Schweizer Eishockey gab es viele, die sich um die Familie Camichel sorgten, weil sie sich fragten: Wie viel Leid kann jemand ertragen? Corsin Camichel sagt: «Es ist für uns alle hart, vor allem für die Mutter.»
Auch er selbst litt, das Brüderpaar hatte sich nahegestanden und noch im Erwachsenenalter zusammengewohnt. 2014 suchte Duri den Bruch – nach seinem vorzeitigen Karrierenende in Rapperswil löste er sich von fast allem, was er mit dem alten Leben verband. Für die Menschen in seinem engsten Umfeld war das nicht einfach zu akzeptieren, doch Duri suchte sein Glück im Amazonasgebiet von Peru. Duri faszinierte die indigene Kultur mit ihren vielschichtigen Bräuchen. Mit Personal-Trainer Harry Andereggen schmiedete er Pläne für ein Trainingszentrum in Costa Rica, ehe die Freunde durch den Unfall aus dem Leben gerissen wurden.
Corsin Camichel, die wichtigste Frage zuerst: Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
Corsin Camichel: Gut, danke. Ich gehe jedes Jahr zur Kontrolle, der Krebs ist nie zurückgekehrt.
Sie standen im November 2011 nur neun Monate nach der Diagnose wieder auf dem Eis, beendeten bald darauf aber Ihre Karriere. Wie kam das?
Camichel: Mein Comeback kam viel zu früh. Ich habe gut trainiert und dachte: Hey, ich bin zurück. Man verlernt das technische Können nicht. Aber den körperlichen Anstrengungen war ich nicht mehr gewachsen. Nach einer Doppelrunde war ich physisch platt. Mein Körper benötigte viel mehr Regenerationszeit. Ich könnte wahrscheinlich heute noch spielen, hätte ich länger gewartet. Aber diese Geduld hatte ich nicht.
Warum nicht?
Camichel: Hinter mir lag eine schwierige Zeit, ich drängte zurück. Und es gab ja niemanden, den ich hätte fragen können, keine vergleichbaren Fälle. Ich musste alles selbst herausfinden.
Wie reagiert Ihr Körper heute auf Belastungen?
Camichel: Ich weiss, was ich mir zumuten kann und was gut für mich ist. Ich schaue auf meine Ernährung und bewege mich viel. Was ich geniesse, sind lange Wanderungen.
Vermissen Sie das Profigeschäft?
Camichel: Überhaupt nicht. Ich bin heute viel relaxter.
Wie kommt das?
Camichel: Ich bin Profi geworden, weil ich den Sport geliebt habe. Aber ich nahm das ganze Trara nie besonders ernst. Für mich waren wir eine Art Clowns, die jeden Samstagabend in der Manege standen und für Unterhaltung sorgten. Aber ganz kann man sich den Mechanismen nicht entziehen. Das Geschäft ist hektisch. Man muss Erwartungen gerecht werden und steht im Fokus der Öffentlichkeit. Ich habe das nie gesucht, das Selbstdarstellerische geht mir ab. Es bedeutet mir nichts, wenn ich meinen Kopf in der Zeitung sehe.
Hatte man stets Verständnis für Ihre Zurückhaltung?
Camichel: Die Spieler schon. Aber bei den Fans wurde es mir manchmal als Arroganz ausgelegt, dass ich die Nähe nie gesucht habe. So ist es aber nicht. Schulterklopfer haben mich nie interessiert. Und mir war immer bewusst, dass sich nach dem Ende der Karriere niemand mehr für einen interessiert.
Ihnen scheint das nicht schwerzufallen. Wie sieht es bei Kollegen aus?
Camichel: Es ist auf jeden Fall so, dass es Spieler gibt, die in ein Loch fallen. Ihnen wird zehn, fünfzehn Jahre lang von den Klubs und den Agenten alles abgenommen. Und dann ist es mit der Betreuung von heute auf morgen vorbei. Keiner ruft dich mehr an, vielleicht hast du nicht einmal eine Ausbildung. Ich bin der festen Überzeugung, dass man die Spieler auf die Zeit nach der Karriere besser vorbereiten müsste.
Wessen Aufgabe wäre das?
Camichel: Eigentlich die der Agenten. Aber die interessiert in der Regel nur die Zeit, in der sie mit dir Geld machen können. Was ja irgendwo auch verständlich ist.
Spielten Sie mit dem Gedanken, es selber als Berater zu versuchen?
Camichel: Den gab es, ja. Wir waren kurz davor, loszulegen. Aber dann kam das Angebot aus Seewen.
Dort wirken Sie inzwischen im dritten Jahr als Trainer. Wie läuft es?
Camichel: Es macht Spass. Wir haben ein junges, hungriges Team. Wir streben die Playoff-Qualifikation an, aber dafür müsste viel passen. Wir haben das kleinste Budget und sind eine Art Ambri-Piotta der 1. Liga.
An wem orientieren Sie sich als Coach?
Camichel: Ich hatte viele unterschiedliche Trainer: Del Curto, Rautakallio, Shedden, Pelletier. Und so weiter. Ich versuche jener Coach zu sein, den ich mir als Spieler selbst gewünscht hätte. Was die Trainingsgestaltung betrifft, habe ich viel von Arno Del Curto übernommen. Und im Spiel bin ich am ehesten wie Pekka Rautakallio, sehr ruhig also. Aufbrausende Trainer mochte ich nie. Mit denen verhält es sich doch so, wie wenn man neben einer Kirche wohnt: Irgendwann hört man die Glocken nicht mehr.
Schliessen Sie eine Rückkehr ins Profigeschäft als Trainer aus?
Camichel: Nicht kategorisch. Aber ich bin mit meiner jetzigen Situation sehr zufrieden. Ich arbeite daneben zu 60 Prozent in einem Büro, und diese Aufgabe erfüllt mich. Ich sehe einfach, welchen Stress sich die Leute machen, die immer noch als Profis arbeiten. Werde ich entlassen? Wer ist gegen mich? Ich weiss nicht, ob ich das will.
Was wäre mit einer Aufgabe im Juniorenbereich?
Camichel: Das würde mir Spass machen, ja. Ich arbeite gerne mit jungen Spielern. Aber ich stelle auch dort fest, dass das Eishockey seine Unschuld verliert. Ich habe Freunde, die im Nachwuchs arbeiten. Teilweise scheint das sehr nervenaufreibend zu sein. Eltern und Agenten stellen Ansprüche, jeder denkt, sein Sohn sei der nächste Superstar. Bei uns war das früher anders. Wir haben einfach gespielt. Eishockey war für uns nicht in erster Linie Business, sondern ein Spiel. Heute geht die Tendenz in eine andere Richtung.
Auch der Aufwand, um es bis zum Profi zu schaffen, scheint sich vergrössert zu haben.
Camichel: Definitiv. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das heute noch machen möchte. Die Belastung ist hoch, der Spassfaktor eher an einem kleinen Ort.
Apropos Spassfaktor: Sie stammen aus einer Generation, in der gerne und oft gefeiert wurde.
Camichel: Das ist nicht falsch. Wir haben Sachen gemacht, die heute undenkbar wären. Als Spieler musst du ja an jeder Ecke damit rechnen, auf einem Handybild zu landen.
Sie sprachen eingangs über den Druck, mit dem man als Spieler fertig werden muss. Ihr Bruder Duri ist daran zerbrochen.
Camichel: Das stimmt. Ich habe mich oft gefragt, was ich hätte anders machen können, wie man ihm hätte helfen können. Sein vorzeitiges Karrierenende war für mich nachvollziehbar, weil er ausbrechen wollte aus dem ewig gleichen Trott, der ihn offenbar so belastete. Er stellte danach alles in Frage: Worum geht es im Leben? Ist eine Karriere als Profisportler nicht völlig sinnentleert? Ich war mit seiner Meinung nicht immer einverstanden, aber wir führten spannende Gespräche. Ich hätte mir gewünscht, dass er in Südamerika sein Glück findet. Ich glaube, dass er bis zum Unfall auf gutem Weg dazu war.
Wie haben Sie den Schicksalsschlag verarbeitet?
Camichel: Der Prozess dauert immer noch an. Es gab Phasen, in denen ich mich zurückzog, weil ich einfach keine Lust hatte, dauernd darüber zu sprechen. Manchmal kommt wieder ein Tief. Ich denke, das ist normal. Ich versuche mich abzulenken. Die Arbeit und das Eishockey helfen mir, nach vorne zu schauen.
Interview Nicola Berger