Seit Dienstag ist bekannt, dass Gelson Fernandes zur Fifa wechselt. Am Montag gab er dieser Zeitung ein Interview, bei dem alles noch ganz anders klang.
Montag, Martigny-Croix. Gelson Fernandes, früher Fussballprofi und seit letztem Sommer Vizepräsident des FC Sion, empfängt zum Interview auf der Geschäftsstelle. Sie liegt im Hotel La Porte d'Octodure, dem Hotel von Sion-Präsident Christian Constantin. Ein Betonklotz am Ortsrand, eingebettet in den Walliser Talkessel. Auch Sportchef Barthélémy Constantin, der Sohn des Präsidenten, geistert herum. Meistens hat er das Handy am Ohr.
Gelson trägt ein kariertes Sakko. Seine Laune: so so lala. Der FC Sion hat am Wochenende wieder einmal verloren. Nach Niederlagen sei es bei keinem Verein gut, sagt er. Im Interview geht es um seine Pläne mit dem FC Sion, sein Verhältnis zur Familie Constantin, seine Karriere. Sie werden nur einen Tag später hinfällig sein, weil Gelson Fernandes da bekannt gibt, dass er im August zur Fifa wechselt, als Zuständiger für die afrikanischen Verbände. Offizielle Funktion: «Director Member Associations Africa».
Wir veröffentlichen das autorisierte Gespräch hier dennoch in der ganzen Länge - weil es zeigt, wie schnell in der Fussballbranche nicht mehr gilt, was eben noch gesagt wurde. Wie wenig Zeit manchmal vergeht, bis die Dinge sich ändern.
Gelson Fernandes, wir staunen ein bisschen. Der FC Sion hat aus den letzten vier Spielen nur einen Punkt geholt, aber Trainer Paolo Tramezzani ist immer noch im Amt. Ist das schon der Gelson-Effekt?
Gelson Fernandes: Nun, wir haben den Trainer ja schon einmal gewechselt in dieser Saison. Man kann nicht immer wieder neu beginnen. Sportlich läuft es nicht so gut, aber es gibt andere Mannschaften, die den Trainer selbst nach fünf Niederlagen nicht austauschten. St.Gallen hatte in der Vorrunde ja ebenfalls Probleme und blieb ruhig. Bei Servette war es dasselbe. Die Liga ist unglaublich schwer. Wir starteten gut in die Rückrunde. Dann war der Trainer gesperrt, das machte uns Probleme. Doch Tramezzani gibt Gas im Training, die Spieler sind fokussiert.
Also alles kein Grund, nervös zu werden?
Ich bin nicht nervös. Und Christian (Christian Constantin, der Präsident, Anm. d. Redaktion) – keine Ahnung, wie nervös er ist.
Seit letztem Sommer sind Sie Vizepräsident in Sion. Was machen Sie genau?
Wir haben kein Organigramm, die Infos fliessen bei uns schnell. Wir suchen die Konstanz, die wir heute noch nicht haben. Ich mache alles. Transfers, Finanzen, Budget, Marketing, ich gebe eine Linie vor. Die Konstellation ist gut, wir tauschen uns immer aus. Ich fühle mich auch nicht eingeklemmt zwischen Vater und Sohn Constantin.
Es dürfte jedoch schon schwierige Momente geben.
Wie in jedem Klub. Aber bei uns ist alles gut, ich bin wie der zweite Sohn für Constantin.
Sind Sie letztlich gekommen, um dem FC Sion ein neues Image zu geben?
Man unterschätzt, was der Präsident für den Klub macht. Er schläft vier Stunden, denkt immer an Sion. Er investiert viel. Man kann immer von aussen kritisieren, aber er zahlt, es ist sein Geld. Er lebt für diesen Verein.
Wie bringt man Ruhe und Konstanz in einen Klub wie Sion?
Das braucht jede Organisation. Aber der Baum brennt nicht bei uns.
Vielleicht. Aber eine feurige Cupmannschaft ist man ebenfalls nicht mehr.
Was sind wir nicht mehr? Hallo! Wir haben mehr Cupsiege als alle anderen. In letzter Zeit waren wir hier vielleicht nicht mehr so gut. Aber es gibt so viele Teams in der Liga, die seit 20, 25 Jahren keinen Cuptitel holten.
Das nützt heute wenig, wenn die Zuschauer nicht mehr so zahlreich kommen, im Schnitt noch etwas mehr als 6000. Weshalb?
Wir haben viele Leute verloren. Es liegt vor allem an den Leistungen. Die Region steht hinter uns, aber die Zuschauer haben keinen Spass mehr.
Die Walliser sind also enttäuscht. Wie sieht Ihre Vision aus für den FC Sion?
Wir brauchen einen guten Tabellenplatz, das ist das Kerngeschäft: Leistung zu bringen. Du kannst Marketing machen wie du willst. Wenn du auf dem Platz verlierst, bringt das alles nichts.
Constantin hat gesagt, er werde Ihnen beibringen, wie man einen Verein führt, wie man sich schlau verhält. Wie viel haben Sie schon gelernt?
Er hat unglaublich viel Erfahrung, am meisten in der Schweizer Liga. Und er hat am meisten Titel geholt von allen aktiven Präsidenten. Er ist nie abgestiegen, als er den Klub führte. Der FCZ, YB, Basel, St. Gallen, sie alle mussten mindestens einmal runter. Oder sogar mehrmals.
Wie muss man sich die Zusammenarbeit bei einem Transfer vorstellen? Entscheidet der Sportchef?
Wir beobachten, analysieren, wen wir haben und wen nicht. Dann besprechen die Constantins und ich, schauen auf das Budget und versuchen bei einem positiven Entscheid, den Fussballer zu holen.
Und dann hat man plötzlich 40 Spieler im Kader, wie der FC Sion aktuell.
Wir müssen Spieler abgeben, ja. Es ist unser Ziel, 23, 24 Spieler im Kader zu haben, inklusive Junge. Im Winter haben wir ja niemanden geholt…
Halt!
Ja, Gaetano Berardi und Loris Benito haben wir verpflichtet. Aber wir hatten ja auch Abgänge. Klar, wir haben Fehler gemacht, auch bei den Transfers. Es muss unser Ziel sein, weniger Fehler zu machen.
Sie verteidigen den Präsidenten vehement. Ist sein Ruf in der Deutschschweiz zu schlecht?
Er kann halt die Sprache nicht. Er kann nie im Fernsehen auftreten, sich nicht verteidigen.
Wollen Sie so sein wie er, falls Sie einmal Präsident werden?
Nein, ich werde nie so sein wie er. Wir sind nicht dieselben Personen.
Haben Sie sich am FC Sion beteiligt, als Sie Vize wurden?
Dazu sage ich nichts, das ist vertraulich. Das kann ein Ja oder Nein bedeuten.
Sie haben einst gesagt, sie wollen einen Fussballclub kaufen. Vielleicht den FC Sion?
Soll ich?
Etwas Geld hierfür hätten Sie vermutlich. Aber vielleicht wollen Sie lieber zur Fifa, Sie haben einmal laut über den Weltfussballverband nachgedacht. Werden Sie der nächste mächtige Walliser dort?
Ich habe keine Ahnung - man weiss nicht, was kommt. Ich schaue von Tag zu Tag. Ich helfe gerne, egal wo.
Christian Constantin hat gesagt, der Gelson trage das Wallis im Herzen.
Ich bin 500 Meter entfernt vom Tourbillon aufgewachsen, mein Vater arbeitet dort bis heute als Platzwart. Ich war Balljunge, Spieler. Das ist mein Herzensklub, ich bin bis heute ein Fan. Wir repräsentieren eine ganze Region. Wenn wir gewinnen, sind alle stolz. Wenn wir verlieren, sind alle traurig.
Sie wuchsen in armen Verhältnissen auf in den Kapverden. Haben Sie noch Erinnerungen?
Ich war zufrieden da. Meine Grossmutter erzog mich, die Mutter war weg, den Vater kannte ich gar nicht. Es war eine tolle Zeit, ich fühlte mich frei und spielte immer Fussball. Das Leben war gewiss nicht einfach, aber ich hatte im etwas zu essen. Als ich dann hierherkam, war es schon ein Schock. Die Sprache war schwierig, ich war sehr wild.
Wild?
Ich kam als Fünfjähriger hierher, hatte keine Tagesstrukturen, war nie in einem Kindergarten. Schulregeln kannte ich schon gar nicht.
Sie fingen mit dem Profitum schliesslich beim FC Sion an, spielten dann in Portugal, Italien, England, Frankreich, Deutschland. Sie könnten überall leben, sind aber wieder im Wallis. Warum?
Es ist super hier. Ich habe ein Haus oberhalb von Sion, die Leute sind gut, die Schule auch. Meine Mädchen wohnen gerne hier, und sie sind die Chefs der Familie.
Welche Liga hat Ihnen am besten gefallen?
Die deutsche Bundesliga, wegen des Publikums. Das war besser als in England. Die Deutschen leben und lieben Fussball.
Wer war Ihr Lieblingstrainer?
Als Fussballer erwartete ich vom Trainer Leidenschaft, Liebe für Spieler und Region, Identifikation, und Spass an der Arbeit. Christian Streich in Freiburg, Nico Kovac in Frankfurt, Stefano Pioli in Verona, alle waren gut und verkörperten das alles. Streich war top. Einfach top. Er ist verrückt, aber top. Er ist voller Leidenschaft, lebt.
Sie haben 67 Länderspiele gemacht, am Ende spielten Sie nicht mehr oft, waren aber dabei, weil Sie für das Team wichtig waren. Etwa Spieler gecoacht haben, wie Sie einmal erzählten. Wie haben Sie das gemacht?
Was ich gesagt habe, bleibt zwischen mir und den Jungs. Sie müssen wissen, Nationalspieler sind Topspieler. Aber es sind auch Menschen, auch sie haben Probleme. Ich habe über all die Jahre vielen Mitspielern und Generationen geholfen. Das macht mich stolz.
Wie redeten Sie mit den Mitspielern?
Jeder ist anders. Jeder. Man muss individuell auf jeden eingehen, einmal musst du sanft sein, dann beinahe schlagen. Nehmen wir Haris Seferovic. Bei ihm kam es darauf an, in welcher Verfassung er war. Diese Verfassung musst du spüren. Zum Beispiel die Pfiffe im Spiel gegen Nordirland. Dann musst du dich hineinfühlen in ihn. Da ging ich auf ihn zu und sagte ihm: Haris, du bist und warst unglaublich wichtig für unser Land. Also gib weiter alles, und halte deinen Kopf oben, auch vor den Medien. Er war und ist viel wichtiger, als die Leute denken. Mit Xherdan (Shaqiri, Anm. der Red.) muss man liebevoll umgehen. Granit Xhaka ist anders, Ricci Rodriguez nochmals anders. Ich war der Freund von allen.
Sie reden immer wieder über das Helfen. Woher kommt das?
Man braucht im Leben jemanden, der hilft. Das kann der Vater, die Mutter, der Chef, ein Mitarbeiter, die Ehefrau sein. Einfach jemanden, der dir die Hand gibt. Ich hatte diese Hand nicht. Mich behütete niemand. Meine Eltern arbeiteten, ich war ein Einzelkind und allein zu Hause. Aber ich hatte diesen Traum, Fussballer zu werden. Das war mein Antrieb, Profi zu werden.
Der Traum erfüllte sich dann auch.
Ich hatte eine fantastische Karriere. Aber man muss auch Glück haben. Wenn ich von Hand rede, dann meine ich die tägliche Betreuung. Stattdessen hatte ich diesen Trainer, der mir im Alter von 16 Jahren bei Sion eine Chance gab. Ob er einen Plan mit mir hatte oder mein Talent sah, weiss ich nicht. Es war vermutlich mehr Zufall. Es war nicht so, dass für mich ein Weg vorgezeichnet wurde. Aber es ging schnell in meiner Karriere, ich ging für über neun Millionen zu Manchester City, mit 20 Jahren. Leider bekam nicht ich das Geld (lacht).
Was war Ihre grösste Szene als Fussballer?
WM 2014, der Achtelfinal gegen Argentinien. Der Rasen? Perfekt. Das Wetter? Unglaublich. Das Stadion? Geil. Der Gegner? Brutal. Die anderen haben den besten Spieler der Welt. Wir waren gut drauf, machten ein Topspiel. Die brasilianischen Fans waren auf unserer Seite, feuerten uns an. Es war super.
Die diesjährige WM steigt in Katar. Was halten Sie davon?
Ich denke, jeder Kontinent hat eine WM verdient. Natürlich haben die Organisatoren Fehler gemacht. Aber das wissen sie und man wird es verbessern.
Apropos verbessern: Der Rassismus verschwindet einfach nicht aus den Stadien. Auch Sie waren schon betroffen. Wie erleben Sie das?
Es ist minim besser geworden, aber es gibt noch viel Luft nach oben. In meiner Karriere war es bei Chievo Verona nicht gut. Die Fans des Stadtrivalen Hellas waren schlimm, sie haben Worte auf mein Auto geschrieben. («Nigger», Anm. der Red.). Es war so schlimm, dass ich meine Frau in die Schweiz zurückschickte. Man weiss nie, zu was ein Fan bereit ist. Es ist jedenfalls so: Wir müssen noch ein paar Schritte machen und Dinge verbessern.
Hat Sie der Fussball eigentlich auch enttäuscht?
Ja.
Wie?
Im Fussball sind alle sehr egoistisch.
Auch falsch?
Oh ja, es ist verrückt.
Wie haben Sie das erlebt?
Wir spüren das jeden Tag. Man sieht es überall. Die Leute sind zu negativ, sie sind misstrauisch. So ist es, sie sind falsch, und vielen geht es nur ums Geld. Ich habe vielleicht zu viel Herz für den Fussball, bin zu nett.
Gibt es den Gelson ohne Fussball?
Klar, zu Hause. Da bin ich ganz ruhig. Ein Guter (lacht). Ein Familienmann.