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FC St.Gallen
Die Frage, welche die Anhänger des FC St.Gallen in der Winterpause am meisten beschäftigte, war: Kann die im Herbst so erfolgreiche Mannschaft ihre Form in die Frühjahrssaison mitnehmen? Nüchtern betrachtet, müsste es möglich sein. Wenn da nicht die Erfahrungen früherer Jahre wären, Jahre des ständigen Absackens, und der Abgang von Torhüter Dejan Stojanovic auf einer sensiblen Position.
Meisterschaftsstart am Wochenende, an dem die Skirennfahrer am Hahnenkamm Kopf und Kragen riskieren. Das hat es im Schweizer Fussball noch nie gegeben. Doch Klimawandel und Rasenheizungen ermöglichen den erstmaligen Wiederbeginn im Januar. Am Sonntag gastiert der FC Lugano im Kybunpark, wobei es für die Tessiner dank der Einsätze in der Europa League nur bedingt um ein Auswärtsspiel handelt. Allzu lange müssen also die Anhänger nicht auf die Beantwortung spannender Fragen warten.
Horchen wir erst einmal auf das Bauchgefühl. Es hat sich allein schon an der Unruhe genährt, die durch den Abgang des soliden Torhüters entstanden ist. Es ist jene Position, die generell zu einer zentralen Funktion im Teamgefüge einer Mannschaft geworden ist, und besonders im System Zeidler. Der Keeper muss generell in einem Match nur noch relativ wenige Schüsse abwehren. Meistens sind es vier bis acht Paraden pro Match. Sein Kerngeschäft hat sich indessen ausgeweitet auf die früher von einem Feldspieler ausgeübte Liberoposition. Er muss also auch das «Handwerk» mit dem Fuss beherrschen und in Sekundenbruchteile entscheiden, ob er sein Gehäuse verlassen soll.
Die Abstimmung mit seinen Vorderleuten hat bei Stojanovic, der auch bei hohen Bällen enorme Sicherheit ausstrahlte, im Herbst bestens funktioniert – ein wesentlicher Grund für die stark verbesserte Abwehrleistung insgesamt. Neuerwerbung Lawrence Ali Zigi und allenfalls ein wiedergenesener Jonathan Klinsmann verdienen Vertrauen. Trainer Peter Zeidler kennt die beiden ja aus eigener Erfahrung. Aber fast blindes Verständnis im Zusammenwirken gedeiht in der Regel nicht von einem Tag auf den andern.
Eine Gefahr liegt auch auf der mentalen Ebene. Es könnten weitere Spieler im Verlauf des Frühjahrs von Abgangsgelüsten befallen werden und sich deren Gedanken und Konzentration schon vor Ende Meisterschaft ins Richtung Ausland verflüchtigen. In der vergangenen Saison war allerdings einzig bei Vincent Sierro ein starker Leistungsabfall festzustellen, wobei beim Walliser die zusätzliche Belastung mit dem Bachelor-Abschluss in Wirtschaft eine Rolle gespielt haben könnte. Fraglich ist schliesslich, ob die junge Mannschaft ihre Unbeschwertheit («Wir können und wollen auch bei Meister YB gewinnen») behalten kann oder ob sie doch bei einer kleinen Misserfolgsserie an sich zu zweifeln beginnt.
St.Gallen hat indessen schon vergangene Saison bewiesen, wenn auch auf tieferem Niveau und bei ständigem Auf und Ab, dass es im Frühjahr die Leistung punktemässig wieder abrufen kann. Die nun gezeigte Konstanz hängt weniger mit der Form einzelner Spieler zusammen als mit der Teamleistung und der taktischen Einstellung, dem Drang nach vorne, mit Zeidlers Fussball eben. Womit wir bei der Kopfarbeit angelangt sind: Die Statistiken lassen darauf schliessen, dass St.Gallen trotz gelegentlich hohen Wellenschlags den Kurs beibehalten kann.
Dass die Zahlen positiv sind, ist für eine erfolgreiche Mannschaft normal. Eine Zusammenstellung hat mich dennoch erstaunt, nämlich jene mit den Schussversuchen und den Schüssen, die dann tatsächlich auf oder ins Tor gelangt sind. Da verzeichnete St.Gallen tatsächlich nur in einem Spiel weniger gelungene Schüsse aufs Tor als der Gegner und zwar in Genf gegen Servette (5 für Servette, 4 für St.Gallen). St.Gallen siegte trotzdem 2:1. Es war auch der einzige Match neben der Partie in der 3. Runde beim 1:1 in Xamax, da der Gegner mehr Abschlussversuche verzeichnete als St.Gallen (14:12 für Servette, 13:12 für Xamax). Verblüffend auch die Zahlen in den beiden Begegnungen mit Meister Young Boys. Im Kybunpark wurden die Versuche der beiden Mannschaften (15 von St.Gallen, 9 von YB) nur je dreimal als Torschüsse registriert. Daraus entstanden die fünf Tore zum 2:3-Erfolg der Berner. Beim prickelnden Spitzenkampf im Wankdorf (4:3 für YB) lautete die Torschussbilanz 7:7. Noch krasser war die Bilanz der Abschlussversuche, in denen diese Torschüsse enthalten sind. St.Gallen probierte es 18mal, YB 13mal.
Anzufügen bleibt, dass die Zahl der Versuche nichts darüber aussagt über die Qualität der Chancen. Viele Mannschaften streuen gerne noch einen zusätzlichen Pass ein, als dass sie aus ungünstiger Lage schiessen. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Zahlen der Partie St.Gallen gegen Zürich beim 1:3. Da gab es 5:4 gelungene Torschüsse. Die Zahl der Abschlussversuche betrug jedoch 26:7. In keinem andern Match schoss oder köpfelte St.Gallen den Ball häufiger in Richtung gegnerisches Tor (zweithöchster Wert 23 beim 3:0 gegen Sion).
Da versteht es sich, dass Trainer Peter Zeidler diese Niederlage noch nach Weihnachten beschäftigte. Da half nichts, dass die Young Boys und Basel in der letzten Runde ebenfalls Punkte abgaben. Es hätte Zeidler somit keineswegs gestört, hätte sein Team einige Wochen als Leader «überwintert». Da kommt seine deutsche Mentalität zum Vorschein, während wir brötigen St.Galler eher die Gefahr von «zu hohen Erwartungen» wittern und doch lieber aus der zweiten Reihe angreifen. Wobei auch Platz drei Ende Saison, wiederum nüchtern betrachtet, ein Erfolg wäre: Kurs gehalten, Ziel erreicht.
Welche Einstellung auch immer die Mannschaft zu beflügeln vermag, ich denke, sie kann selbstbewusst auftreten. Auch das häufige Argument, die Gegner wüssten nun, wie St.Gallen spielt, und könnten sich nun besser einstellen, verfängt kaum. Immerhin wussten sie es ja schon seit vergangenem Jahr, konnten aber St.Gallens Angriffsschwung selten bändigen. Mein persönlicher Trend: Der Kopf behält Recht, das Bauchgefühl weicht angenehmem Wohlbefinden.
Es dürfte sich im Schweizer Fussball um den frühesten Meisterschaftsstart handeln, den ersten im Januar. Seit der FC St.Gallen in der Arena spielt, erfolgte der früheste Auftakt bisher am 1. Februar 2014 beim 1:1 in Aarau. Seither war der Start stets auf die erste Februarwoche angesetzt. Die Entwicklung ist enorm: Früher hatten sich zur Fasnachtszeit die Nationalliga-A-Fussballer gerade mal den Winterschlaf aus den Gliedern geschüttelt. Es ging dann ins Trainingslager, ehe im März wieder um Punkte gekämpft wurde.
Der Trainingsstart wurde vor rund 50 Jahren in der Zeitung noch ziemlich knapp vermerkt. Jetzt erhalten wir täglich Berichterstattung aus dem Trainingslager seitenweise, und die Testspiele können live auf dem Stream verfolgt werden. Wem es zu viel war, musste sich ja nicht einklinken. Der Aufwand aber zeigt, wie sehr die Aufmerksamkeit für diesen Sport global bis lokal zugenommen hat. Einst interessierte Fussball primär Männer und noch nicht die ganze Familie. Gerne erwähne ich ab und zu jene Episoden, bei denen via Lautsprecher im Espenmoos beispielsweise verkündet wurde: «Herr Peter Müller aus Wittenbach wird dringend gebeten, sich ins Kantonsspital zu begeben. Er ist soeben Vater geworden.» Für mich gab es sehr viel Lesenswertes, um bloss die sich amüsant entwickelte Kameradschaft zwischen Boris Babic und Ermedin Demirovic zu erwähnen.
Der Rap von Alessandro Kräuchi schaffte es sogar noch im alten Jahr bis in den Boulevard und verschwand ebenso rasch wieder. Nach meiner Beobachtung hatte ein Wort besonderen Ärger erregt, jenes das im Englischen als Four-letter-Word bekannt ist und dort in den Medien jeweils mit drei Sternchen ausgeschrieben wird. Ja, der Sprachwandel. Es sind noch nicht viele Jahre vergangen, als das Wort «geil» aus der untersten Schublade des Sexualvokabulars sehr verpönt war. Inzwischen ist es für fast jede Form von Wohlgefallen salonfähig geworden.
Dejan Stojanovic hat sich also verändert, in die zweithöchste Liga Englands. Vor dreieinhalb Jahren war St.Gallens Torhüter von Bologna ablösefrei zum FC St.Gallen gestossen. Seit zwei Jahren hat der Vorarlberger einen Stammplatz. Dass ihn die Championship für einen Wechsel mitten in der Saison reizt, dafür kann man für den 26-jährigen Torhüter Verständnis haben, auch wenn er möglicherweise mit dem FC St.Gallen einen erfolgreichen Saisonabschluss verpassen wird. Aber Torhüter müssen solche Gelegenheiten wahrnehmen; sie stehen ja ohnehin oft vor einer schwierigen Konstellation, da es für sie nur eine Position gibt im Teamgefüge. Ihre Chance auf einen Stammplatz in der ersten Mannschaft stehen rein mathematisch bei 33 Prozent, weil drei Torhüter benötigt werden und im Extremfall sogar zu wenig sein könnten – siehe FC St.Gallen in diesem Winter. Auch in Middlesbrough hat Stojanovic noch keinen Stammplatz auf sicher. Die Mannschaft von der Teesside in Nordengland wird mit grosser Wahrscheinlichkeit nächste Saison weiterhin in der zweithöchsten Liga (früher Second Division) spielen. Stojanovic ist es zuzutrauen, dass er im River Side Stadium zur Nummer 1 wird. (th)