Kolumne
Flavio, du fehlst uns: Warum die Kolumne «Gschobe» zum letzten mal erscheint

Sie stammen aus dem gleichen Dorf im Appenzellerland, sind zwischen 47 und 50, treffen sich einmal pro Woche und jassen oder spielen Boule. Pius, Qualitätsmanager, Appenzell David, Lehrer, Speicher AR Tobias, Consultant, Zürich Flavio, Sozialarbeiter, Winterthur François, Journalist, Windisch.

François Schmid-Bechtel
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Am 28. März ist diese Kolumne letztmals in dieser Zeitung erschienen. Anders als sonst. Es war kein Protokoll eines Gesprächs, einer Diskussion, eines Gezänks oder Gelästers unter Freunden, während sie jassen oder Boule spielen. Damals war die Kolumne ein Monolog. Einerseits, weil wir wegen Corona mit unseren wöchentlichen Treffen ausgesetzt haben. Andererseits, weil es Wichtigeres gibt, als sich in Stammtisch-Manier über den Sport, seine Auswüchse und Begleiterscheinungen zu mokieren.

Es ging in der letzten Kolumne um Flavio. Einen aus unserer Gruppe. Ein Freund seit einer gefühlten Ewigkeit. Die ersten Jahre unseres Lebens wohnten wir quasi Tür an Tür. Es ging in der letzten Kolumne um meine Sorge um Flavio. Drei Tage zuvor hatte er die Diagnose «akute Leukämie» erhalten. Uns – David, Pius, Tobias und ich – fuhr im ersten Moment der Schock in die Knochen. Im zweiten aber wich die Konsternation einer Zuversicht, die nicht unbegründet war. Leukämie ist heute kein Todesurteil. Die Überlebenschancen werden mit 85 Prozent beziffert.

Selbst als ich Flavio einen Tag nach der Diagnose ins Spital gefahren habe, fühlte es sich bei mir eher an, als würde ich ihn zum Flughafen bringen. Ziel unbekannt. Reise beschwerlich und unwägbar. Und voller Entbehrungen. Aber Rückkehr garantiert. In zwei, vielleicht auch erst in drei Monaten. Aber sicher im Sommer. Wenn es am schönsten ist.

Gewiss, auf der Fahrt ins Spital schwang Sentimentalität mit. Auf eine Art, als würde man einen geliebten Menschen aus den Augen verlieren. Aber nur temporär, sicher nicht für ewig. Trotzdem hatte ich, unmittelbar bevor wir das Spital erreichten, das Gefühl, ich müsste Flavio endlich gestehen, welchen Song ich mit ihm assoziiere. «Candy» von Iggy Pop und Kate Pierson, seit er vor über 20 Jahren in unserer WG durch die Wohnung tanzte. Er war gerührt.

Und Flavio selbst gab uns Mut. In keinem der vielen Telefonate liess er auch nur einen Hauch von Verzagtheit erahnen. Nichts deutete daraufhin, es könnte etwas schieflaufen. Flavio, positiv wie immer. Selbst im sterilen Spitalzimmer voll blühender Ideen für die Zukunft. Immer auf der Suche nach dem Licht. Und auch nach der ersten Chemotherapie fragt er: «Wie geht’s deinen Jungs? Wie läuft es mit dem Homeschooling? Machen sie gut mit? Ach komm schon: Sei nicht so streng, lass ihnen Freiraum. Wir können das Thema gerne mal genauer anschauen, wenn ich hier raus bin.» Kein Hadern, kein Jammern, kein Selbstmitleid. Alles wie immer.

Drei Wochen, nachdem ich Flavio ins Spital gefahren habe, erreichte uns die niederschmetternde Nachricht, dass Flavio gestorben ist. Uns – David, Pius, Tobias und ich – hat es den Boden unter den Füssen weggezogen. Wir haben uns noch am selben Abend getroffen. Wir haben getrauert, getrunken und geweint, aber kaum geredet. Es ging nicht anders. Wir sind noch immer unfassbar traurig, unfassbar ratlos, unfassbar verwirrt – einfach fassungslos – dass wir Flavio nie mehr sehen werden.

Ich hoffe, Sie werden verstehen, dass diese Kolumne die letzte ist. Ohne Kurt Cobain keine «Nirvana». Ohne Flavio kein «Gschobe».