In Luzern flogen am Samstag die Fäuste und Füsse. Und am Ende gab es viel Ehre und Jubel für einen Schweizer mit eisernem Willen.
Thomas Bornhauser
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Die Schweiz hat einen neuen Weltmeister in der Sportart, die einst Andy Hug zum internationalen Star gemacht hatte. Der Mann ist 34-jährig, heisst Markus Adlun und verdient sein Leben als Ingenieur bei Roche in Rotkreuz.
Am Samstagabend aber zählt das andere Leben dieses Markus Adlun. Da steht er im Luzerner Casino spätabends im Ring gegen den Japaner Kimura Kazunari. Jetzt will er, nach Titeln als Schweizer-, Europa- und Interkontinentalmeister, die höchste Stufe im K1-Olymp erreichen. Er will den vakanten Titel der World Kickboxing Federation in der Kategorie 72,5 Kilogramm erobern.
Doch bis dahin ist es ein langer Weg. Für Adlun, der sich bis zu diesem Moment des Triumphes sieben Jahre lang durch die K1-Szene nach oben gekämpft hat. Und auch für die knapp 400 Zuschauer, die am Samstagabend zwölf Vorkämpfe erleben, bis schliesslich Adlun den Ring betritt.
Zu Beginn sieht es für die Luzerner Organisatoren mit Thomas Hladky und seinem Thai-Kickbox Center TKBC keineswegs gut aus. Denn die ersten vier Kämpfe gehen für die Luzerner allesamt verloren. Nik Kottmann, (Boxen, bis 60 kg, nach Punkten), Antonio Testa (K1, bis 65 kg, nach Punkten), Amir Amini (K1, bis 70 kg, k.o. in der 2. Runde) und Veronika Geiger (K1, bis 59 kg) standen noch gar nie oder höchstens einmal wettkampfmässig auf den Brettern. Sie allesamt bezahlen Lehrgeld in Form von Schlägen und Niederlagen. Ihr Boxchef Hladky wird dazu in der Pause sagen: «Viele unterschätzen halt den ersten Kampf. Das ist nicht Fussball oder Tennis.» Ob solche Startpleiten entmutigen? Es gebe schon jene, die dann den Bettel hinschmeissen würden, antwortet Hladky. Bei anderen aber mache es dann erst recht «Klick».
Das macht es dann auch bei den für Luzern antretenden Kämpfern in der zweiten Staffel. Sie haben schon einiges an Wettkampferfahrung im Boxring. Und sie sind jetzt allesamt gegen ihre Gegner aus Italien und Frankreich am Drücker: Mohsen Heidari (Boxen, bis 65 kg, nach Punkten), Geza Kovacs (K1, über 100 kg, nach Punkten), die Kämpferin Anne Ernert (Muay Thai, 55 kg, Abbruch in der 1. Runde), Gustav Bacskoi (Boxen, bis 67 kg, techn. k.o. in der 2. Runde) und Patrik Komani (Muay Thai, bis 79 kg, k.o. in der 1. Runde) gewinnen ihre Kämpfe. Das widerspiegelt sich jetzt auch in der Stimmung rund um den Ring. «No eine!» hört man jetzt einen Mann aus dem erwachenden einheimischen Publikum schreien. Und umgekehrt sieht der französische Trainer das Unheil seiner jungen Kämpferin schon im Ansatz kommen, als er sie beim Einstieg in den Kampf warnt: «Doucement, doucement!» – sachte, sachte. Die tapfer leidende Sportlerin hört es offenbar nicht. Jedenfalls rennt sie ins Verderben. Niederschlag. Dreimal in Folge in der 1. Runde. Das schmerzhafte Aus.
Auch bei uns scheint der Kampfsport mittlerweile auch bei Frauen angekommen zu sein. Und auch bei Bürolisten bis in Teppichetagen. Er mache jetzt auch Kampfsport. Seit rund 2 Jahren trainiere er regelmässig beim TKBC, erzählt mir in der zweiten Pause mit Stolz der knapp 60-jährige Rudolf Widmer, seines Zeichens Finanzchef im Casino Luzern. Und da scheint er heute mehr aufzublühen als einst als Amateurfussballer beim Luzerner Stadtverein SCOG.
Doch zurück auf die Wettkampfbretter, wo ein lokalsportlich grosser Moment im Anzug ist. Vorerst holen Kenan Aksoy (K1, bis 70 kg, techn. k.o.), Kabir Bassiri (K1, bis 67 kg, Disqualifikation des Gegners in der 2. Runde), Rit Kaewsamrit (Muay Thai, bis 68 kg, techn. k.o. in der 3. Runde) die nächsten drei Siege für den Luzerner Boxclub.
Und dann ist es soweit. Der finale Kampf um Weltmeisterehren im K1 ist angesagt. Eine Einschätzung des japanischen Gegners von Markus Adlun scheint nicht wirklich einfach. Der Kampf ist offenbar vor wenigen Wochen erst arrangiert worden. Als Adlun sich von seiner langwierigen Schulterverletzung erholt fühlte und Hladky mit seinen Beziehungen den Japaner Kimura Kazunari für einen WM-Kampf ausfindig gemacht hatte. Die Kampfbilanz dieses Japaners: 14 Kämpfe, davon 8 Siege, 5 Niederlagen und ein Unentschieden.
Nach Unentschieden wird es im Kampf vom Samstagabend nie aussehen. Der Schweizer geht konsequent und stilsicher auf seinen Gegner los. Schon in der Pause hatte Hladky mir gegenüber geschwärmt, Adlun funktioniere «wie ein Schweizer Uhrwerk». Und Adlun selbst wird mir am Morgen danach erläutern, er sei bewusst ein hohes Tempo gegangen, um dem Gegner die Luft zu nehmen. In der Tat: Der Japaner wehrt sich mutig und zäh, wirkt aber ohne echte Chance. «Mach ihn fertig», höre ich eine Frauenstimme im Publikum. Das geht Schlag für Schlag in Erfüllung. Bald schon öffnet sich beim Japaner ein Cut, und im Nu fliesst das Blut in Bächen. Zweimal wird er notfallmässig im Gesicht verarztet, bis der Ringrichter den ungleichen Kampf in der 5. und letzten Runde abbricht. Tosender Applaus im Luzerner Casino.
Das Überraschendste überhaupt aber passiert für mich am Sonntagmorgen. Da erklärt mir der frisch gebackene Weltmeister ruhig argumentierend, dass es für ihn eine offene Frage sei, ob er als Kampfsportler weitermache. Er sei im Begriff, seine Prioritäten im Leben neu zu ordnen. Als nächstes stehe für ihn jetzt eine MBA-Weiterbildung an der Hochschule Luzern auf dem Programm. «Und da wird es immer schwieriger, alles unter einen Hut zu bringen.» Was Adlun damit meint: Nebst einem 100-Prozent-Job vor Kämpfen acht bis zehn Trainings pro Woche. Und jetzt auch noch diese anspruchsvolle Weiterbildung. Ganz abgesehen davon, dass es selbst für einen erfolgreichen Weltmeisterschaftskampf materiell offenbar nicht mehr gibt als eine höchst überschaubare Prämie.
Das scheint in der Schweiz im Boxsport also doch wie eh und je: Auch bei uns geht es zwar um Leistungswillen und Mut und Leidenschaft. Für die allermeisten aber kaum um Geld.