LEICHTATHLETIK: Kariem Hussein: «Ich verpasse viele Vorlesungen»

Kariem Hussein startet heute bei Athletissima Lausanne. Im Interview spricht der Hürdenläufer und Medizinstudent über hohe Erwartungen, die Rolle seines Vaters und verschwenderische Tage.

Raya Badraun
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Kariem Hussein bei einem Shooting im Zürcher Letzigrund. (Bild: Ennio Leanza/Keystone (Zürich, 27. April 2017))

Kariem Hussein bei einem Shooting im Zürcher Letzigrund. (Bild: Ennio Leanza/Keystone (Zürich, 27. April 2017))

Interview: Raya Badraun

Kariem Hussein, vor dem Gewinn der Goldmedaille an der EM 2014 haben Sie mit Ihrem Trainer Flavio Zberg ausgedehnte Spaziergänge unternommen. Machen Sie das immer noch?

Ja, am Abend vor dem Rennen gehen wir jeweils spazieren. Früher war ich ziemlich nervös vor den Wettkämpfen. Bei den Spaziergängen redete mir Flavio gut zu, beruhigte mich. In gewissen Phasen, etwa vor Grossanlässen, brauche ich das noch immer. Doch heute bin ich routiniert. Deshalb sprechen wir kurz vor dem Wettkampf nicht mehr gross über das Rennen. In Finnland während der Team-EM zum Beispiel gingen wir am Abend vorher ans Meer in ein Fischrestaurant, um etwas zu trinken. Ganz easy.

Über Leichtathletik sprecht Ihr also weniger als früher?

Es ist auch heute noch oft ein Thema, und ich frage immer noch gleich viel wie früher. Aber am Tag vor dem Wettkampf muss ich nicht mehr über 1000 Dinge reden. Die Ziele sind viel klarer. Der Spaziergang ist einfach noch ein schönes Ritual.

Ein Ritual unter Freunden?

Unser Verhältnis ist sehr gut. Flavio und ich sind vom Typ her gleich und haben ähnliche Inte­ressen. Zudem verbringen wir viel Zeit zusammen. Ich erzähle ihm fast alles, das braucht es auch. Wenn ich private Sorgen habe, zum Beispiel an der Uni oder in einer Beziehung, dann muss er das wissen. Aber es hat natürlich schon seine Grenzen.

Zum Beispiel?

Wenn ich eine Freundin hätte, dann würde ich ihm nicht alles erzählen. Er zieht sich auch hin und wieder zurück. Im vergangenen Sommer hat mein bester Freund geheiratet. Er war früher Athlet bei Flavio, deshalb war auch er zur Hochzeit in Los Angeles eingeladen. In Las Vegas haben wir den Polterabend gefeiert, auch dort wäre er eingeladen gewesen. Flavio kam jedoch nicht mit, weil es sonst fast zu kollegial zwischen uns geworden wäre.

Braucht es diesen Abstand?

Für mich schon. Ich bin nicht einer, der im Trainer einen Kollegen sucht. Mir ist wichtig, dass ich zu ihm hochschauen kann. Mit Flavio habe ich ein kollegiales Trainer-Athlet-Verhältnis. Ich kann nicht verlangen, dass er sich verstellt. Deshalb hole ich mir das Patriarchale bei meinem Vater oder einem anderen Trainer, zum Beispiel bei Reto Kern, bei dem ich das Rumpftraining mache.

Was bedeutet das genau?

Ich hatte bereits als Fussballer nie Mühe damit, wenn mich jemand zusammenstaucht. Manchmal brauche ich das sogar. Ich nehme es auch nicht persönlich, solange es konstruktiv ist. Das kollegiale Verhältnis ist cool, doch manchmal ist es auch gut, wenn jemand mir sagt, wo es durchgeht. Das kann ein 35-Jähriger auch. Aber es ist ganz anders, wenn das ein 60-Jähriger macht. Deshalb bin ich froh, dass ich ganz verschiedene Menschen in meinem Umfeld habe.

In welchen Momenten brauchen Sie Ihren Vater?

Bei mir ist es oft so, dass meine Erwartungen fast zu hoch sind. Mein Vater findet dann immer die richtigen Worte. «Du bist keine Maschine. Es kann immer etwas schiefgehen», sagt er dann. Ich brauche manchmal jemanden, der mir Ruhe gibt. Auch in stressigen Prüfungs­phasen ist das wichtig. In solchen Momenten ist es schwer, sich selbst zu kontrollieren. Dann bin ich froh, wenn mir jemand sagt: «Bleib ruhig, du schaffst das.» Das weiss ich zwar. Aber hin und wieder muss man es von aussen hören. Und dann reicht es auch nicht immer, wenn es nur der Trainer sagt.

Steht Ihnen der Perfektionismus manchmal im Weg?

Hin und wieder fehlt mir wahrscheinlich die Lockerheit. Im Training habe ich sie, im Wettkampf jedoch nicht immer.

War dies auch Anfang Saison das Problem?

Nach dem Schweizer Rekord über 300 Meter Hürden hatte ich das Gefühl, dass ich auch in meiner Paradedisziplin so schnell sein kann. Als ich dann keine Bestzeit aufstellte, war ich genervt. Das ist die falsche Einstellung. In den vergangenen Jahren war ich um die gleiche Zeit nie viel schneller. Auch Flavio war zufrieden mit mir. Dennoch hatte ich mir mehr erhofft, denn ich fühlte mich lockerer als in den Jahren zuvor.

Was ist anders als früher?

Im vergangenen Jahr machte ich Praktika. Wir haben das immer als Übergangsjahr bezeichnet, weil ich keine Prüfungen hatte. Aber eigentlich war es anspruchsvoller als das reine Studium, denn ich musste präsent sein. Das habe ich damals fast ein bisschen unterschätzt. Nun bin ich zurück an der Uni und bin wieder am Ausprobieren, wie ich Studium, Training und Erholung vereinbaren kann.

Verpassen Sie oft Vorlesungen wegen des Sports?

Ja, ständig. Beim obligatorischen Teil bin ich immer dabei. Bei den restlichen Vorlesungen fehle ich jedoch fast zu 100 Prozent. Diese Zeit brauche ich, um zu trainieren.

Also haben Sie immer Ihre Bücher dabei, wenn Sie zu Meetings reisen wie diese Woche nach Lausanne zur Athletissima?

Manchmal. Es ist aber nicht so einfach. Wettkampftage sind ziemlich verschwenderische Tage. Meistens mache ich fast gar nichts. Ich bin im Hotel, gehe essen, dann zurück ins Zimmer. Liege auf dem Bett, schalte vielleicht den Fernseher ein. Ich hätte eigentlich so viel Zeit, aber kann nichts machen, weil ich nervös bin und den Fokus nicht verlieren will.

Dann müssen Sie also am Wochenende lernen?

Frei habe ich nie. Entweder muss ich für die Uni etwas erledigen oder ich trainiere. Aber es ist auch nicht so, dass ich nichts anderes mache, als zu lernen. Zwischendurch habe ich immer wieder Zeit für mich. Wenn ich jedoch etwas mache, dann richtig.

Was gönnen Sie sich, wenn Sie doch einmal Zeit haben?

Dann bin ich gerne zu Hause im Thurgau oder in Zürich mit meinen Freunden und der Familie. Ich muss dann gar nicht gross etwas unternehmen, ich geniesse einfach die Zeit. In solchen Momenten merke ich, wie wertvoll das ist. Ich bin dann zwar nicht sieben Stunden an einem Geburtstagsfest, aber das brauche ich auch nicht. Die zwei Stunden, die ich mit Freunden verbringe, sind dafür umso intensiver.