Nicole Häusler aus Pfaffnau bestreitet ihre ersten Paralympischen Spiele. Die 37-Jährige äussert sich über ihre Ziele, ihre Krankheit Multiple Sklerose – und was es mit Balu, dem Bär, auf sich hat.
Theres Bühlmann
Ihr Optimismus ist geblieben, auch ihre Lebensfreude. Trotz des schicksalshaften Tages, jenes 10. Februar 2006, als Nicole Häusler die Diagnose erhielt: Multiple Sklerose (MS). Eine bis heute unheilbare Erkrankung des zentralen Nervensystems, die schubweise zu Sehstörungen, Gefühlsstörungen der Haut, zu Muskellähmungen und zur extremen Erschöpfung führt. «Mir blieben zwei Möglichkeiten: die Krankheit positiv anzugehen oder in ein Loch zu fallen», blickt Häusler zurück. Sie entschied sich, die Krankheit anzunehmen, «wobei ich natürlich auch ab und zu in ein Tief gerate». Zwei Jahre konnte sie kurze Strecken noch auf Krücken bewältigen, dann wurde der Rollstuhl unumgänglich. Häusler musste ihre Lebensweise anpassen, auch in sportlicher Hinsicht.
Als sie noch gesund war, bestritt sie Radrennen, «sehr erfolgreich war ich aber nicht», sagt sie lachend. Sie frönte zudem dem Tauchsport und fuhr Motorrad, eine 750er-Maschine. Nach ihrer Erkrankung betätigte sie sich im Rollstuhlcurling, bis ein erneuter MS-Schub zu einer Lähmung des rechten Armes führte. Als Alternativen wurden ihr Rollstuhlrugby oder Sportschiessen empfohlen. «Im Rollstuhlrugby sah ich mich nicht unbedingt», erzählt die heute 37-Jährige aus Pfaffnau. Also machte sie sich auf nach Kölliken AG, zum rollstuhlgängigen Schiessstand. In der Person von Kurt Kaiser fand sie einen Trainer, der ihr Talent erkannte und sie förderte. Ganz einfach war das nicht, denn als Rechtshänderin musste sie sich stark umorientieren, mit der linken Hand schiessen und mit dem rechten Auge das Ziel anvisieren. Doch sie bewältigte diese Hürde und reüssierte schon bei ihrem ersten Wettkampf 2014: In Bern holte sie sich mit dem Luftgewehr nicht nur den nationalen Titel, sondern erzielte auf Anhieb einen Schweizer Rekord.
Nicole Häusler, die in einem 50-Prozent-Pensum als Fachfrau für medizinisch-technische Radiologie im Spital in Langenthal arbeitet, ist auch im Bereich Kleinkaliber aktiv. Weil diese Sparte aber nicht auf dem paralympischen Programm figuriert, legte sie ihren Fokus in den letzten Wochen auf das Luftgewehr. Sie trainiert rund 6 Stunden in der Woche, dazu gehört auch Physiotherapie und Hippotherapie (therapeutisches Reiten).
Beim Luftgewehr wird über die Distanz von 10 Metern geschossen, und zwar liegend und stehend. Die Begriffe sind etwas irreführend, denn die Schussabgabe erfolgt im Rollstuhl. Bei der Liegenddisziplin werden die Arme auf einem Tisch aufgestützt, stehend ist dies nicht der Fall. Weil Schützen der Kategorie SH 2 – dieser gehört Häusler an – das Gewehr nicht mit der eigenen Muskelkraft halten können, wird dieses auf eine Halterung gelegt.
Die Athleten können dabei Hilfe beanspruchen, das gilt auch für das Laden der Munition. Diesen Part wird in Rio Nationaltrainerin Claudia Marti übernehmen, die allerdings explizit nur nach den Anweisungen der Schützin agieren darf. Tipps dürfen den Athleten nicht gegeben werden, Coaching ist untersagt. «Da ich noch wenig internationale Erfahrung habe, bin ich mit einem Rang innerhalb der Top 15 zufrieden», sagt Häusler über ihre Zielsetzung in Rio de Janeiro.
Erst einmal wird sie heute Abend bei der Eröffnungsfeier dabei sein, «und darauf freue ich mich sehr». Man habe ihr angeraten, Taschentücher mitzunehmen, «da es sehr emotional werden könnte». Häusler will sich auch in den nächsten Jahren auf internationaler Ebene messen. Als grosses Fernziel locken die Paralympischen Spiele 2020 in Tokio. «Aber bei meiner Krankheit ist die Planung etwas schwierig, da ich den Verlauf nicht voraussehen kann.»
Nicole Häusler versucht, ihre Unabhängigkeit so weit als möglich zu behalten. Doch ab und zu ist sie auf Hilfe angewiesen. Beim Einkaufen oder Putzen zum Beispiel ist sie froh, wenn sie von ihren Eltern oder von der Schwester unterstützt wird. Auch wenn ein erneuter Schub eine Umrüstung ihres Autos erfordert, kann sie temporär auf die Fahrdienste ihrer Familie zählen, «damit ich so meine Therapien nicht verpasse». Zu ihrer Unabhängigkeit passt die Tatsache, dass sie immer noch tauchen geht und sogar einen Gleitschirm-Tandemflug absolvierte. «Eigentlich kann ich als Rollstuhlfahrerin all das machen, was ich mir vorgenommen habe.» Fast. «Einzig das Töfffahren vermisse ich.» Ihr Vater sorgte aber vor. Er hat ein Motorrad mit Seitenwagen angeschafft, damit seine Tochter noch immer das Töfffeeling spüren kann.
Etwas darf für Nicole Häusler in Rio nicht fehlen: Balu, ein kleiner Teddybär, das Geschenk einer verstorbenen Kollegin. Möge er ihr in Rio Glück bringen.
SCHWEIZER TEAM T.B. Die Schweiz nimmt mit 24 Athleten an den Paralympics in Rio teil. Ihre stärksten Disziplinen sind Leichtathletik und Paracycling. 10 Medaillen sollen es laut Ruedi Spitzli, Chef de Mission, werden. Die grössten Chancen haben unter anderen Marcel Hug und Manuela Schär. Noch einmal wissen will es Heinz Frei (58), der zu seinen 15. Paralympics antritt und den Titel im Handbike-Zeitfahren verteidigen will. Bei den Paralympics sind 4350 Athleten aus 176 Länder dabei. Die Eröffnungsfeier wird heute Abend auf SRF 2 ab 22.50 übertragen. Sandra Graf wird die Schweizer Fahne tragen.
Die Schweizer Delegation. Bogenschiessen: Martin Imboden (Visp), Magali Comte (Petit-Lancy). – Leichtathletik:Beat Bösch (Nottwil), Catherine Debrunner (Mettendorf), Heinz Frei (Oberbipp), Philipp Handler (Embrach), Sandra Graf (Gais), Marcel Hug (Neuenkirch), Tobias Lötscher (Nottwil), Bojan Mitic (Hochdorf), Abassia Rahmani (Wila), Manuela Schär (Kriens), Christoph Sommer (Utzenstorf). – Paracycling:Roger Bolliger (Bottenwil), Tobias Fankhauser (Hölstein), Heinz Frei, Felix Frohofer (Russikon), Sandra Graf, Sandra Stöckli (Jona), Lukas Weber (Zürich). – Para-Equestrian Dressur: Nicole Geiger mit Phal de Lafayette (Zeiningen), Celine van Till mit Amanta (Genf). – Sportschiessen:Nicole Häusler (Pfaffnau), Paul Schnider (Mels). Schwimmen: Carla De Bortoli (Salmsach). – Tischtennis:Silvio Keller (Wallbach).