Der Leichtgewichts-Vierer um die beiden Luzerner Mario Gyr und Simon Schürch ist Weltmeister! Es ist ein Triumph, dessen Entstehung von wahrer Grösse der vier Athleten zeugt.
Am Ende war Mario Gyr gar nicht mehr kaputtzukriegen. Nachdem der Schweizer Leichtgewichts-Vierer ohne Steuermann im WM-Final souverän als Erster über die Ziellinie gefahren war, feierte der 30-Jährige aus Luzern den grössten Erfolg in der Karriere der vier Athleten so ausgelassen, als ob ihn die 2000 Meter, die 5:55,31 Minuten Rudern am Limit fast keine Kraft gekostet hätten.
Während sich seine drei Kollegen Simon Schürch (24/Schenkon), Simon Niepmann (30/Zug) und Lucas Tramèr (27/Vésenaz) quer übers Boot verteilt in den Armen lagen und nach Luft rangen, sprang Gyr auf, stellte sich wie eine Gallionsfigur am Bootsrand auf, stemmte mit den Armen das Ruderblatt in die Höhe und schrie seine Freude über den Lac d’Aigubelette. Kaum an Land umarmte er quasi jeden, der ihm in den Weg kam, ballte mehrmals die Hände zu Fäusten und sang bei der Siegerehrung die Schweizer Hymne so inbrünstig mit, dass man sich Sorgen um seine Stimmbänder machen musste.
«Das hier ist jetzt wahnsinnig schön», liess er später verlauten und fügte gerührt an: «Wenn man weiss, wo ich im März gestanden bin – und dann das jetzt ...» Immerhin musste Gyr damals eine mehrstündige Nierenoperation über sich ergehen lassen. Anschliessend bereiteten ihm schon die kleinsten alltäglichen Dinge Schmerzen. An Rudern war nicht zu denken, der Spitzensport war für ihn in weite Ferne gerückt. Es ist ein Aspekt, der den gestrigen Triumph des Quartetts noch mal emotionaler machte. Dabei hätte es das gar nicht gebraucht. Denn die Fakten und die Geschichte, die hinter dem ersten WM-Titel der vier stehen, heben auch so schon die Besonderheit dieses Sieges heraus.
Immerhin gelang Gyr, Schürch, Niepmann und Tramèr der erste Schweizer WM-Triumph in einer olympischen Bootsklasse seit dem Erfolg von Markus und Michael Gier 1995 im Leichtgewichts-Doppelzweier. Und der letzte Schweizer WM-Titel in einer olympischen Bootsklasse in einem Grossboot (Vierer oder Achter) liegt gar 33 Jahre zurück. Und dann gelang dem Quartett dieser Erfolg ausgerechnet an der WM in einem Jahr vor Olympischen Spielen – im Rudern grundsätzlich die schwierigste WM, weil die Titelkämpfe im vorolympischen Jahr immer auch die Olympiaqualifikation sind und deshalb alle in Bestbesetzung antreten. «Wenn du ein Jahr vor Olympia den Titel holst, zeigt das, dass du ein Weltklasse-Team bist. Und das motiviert dich unheimlich für die nächsten Monate bis zu den Spielen in Rio de Janeiro», verdeutlichte Schürch und fügte stolz hinzu: «Ausserdem gibt es ja nicht so viele Weltmeister in der Schweiz.»
So weit die Fakten. Was diesen Triumph aber umso grandioser macht, ist die Art und Weise, wie er zu Stande gekommen ist: Im Mai 2010 trat das Quartett erstmals gemeinsam an. Seither folgten die Hoffnungen auf die Olympiamedaille 2012, der für sie enttäuschende fünfte Platz an den Spielen von London, die Trennung, weil sich Gyr und Schürch im Doppelzweier mehr Chancen auf eine Olympiamedaille 2016 ausrechneten und es daher 2013 und 2014 zu zweit versuchten – und die Wiedervereinigung vor dieser Saison.
Und seither bewiesen die vier Ruderer ihre wahre Grösse als Sportprofis. Sie legten die zwischenzeitlichen Uneinigkeiten ad acta, traten wieder als Team auf und arbeiteten gemeinsam am Ziel, sich kontinuierlich von einem Final-Boot zu einem Podestplatz-Boot zu verbessern. Das gelang – vor allem auch dank des neuen Trainers Ian Wright, der das Quartett im November übernahm.
Bis dahin hatte der bisherige Trainer Simon Cox die vier auf ein hohes Niveau gebracht, doch dank Wright gelang ihnen nun auch noch der letzte Schritt. Denn Wright holte sie raus aus der Komfortzone und liess sie sechsmal die Woche drei Einheiten pro Tag und damit weit mehr als früher trainieren. «Wir waren in diesem Jahr schon bis Mitte Mai so viele Kilometer auf dem Wasser gerudert wie im ganzen Jahr 2014», erklärt Schürch, «mit dem neuen Trainer hat eine neue Ära begonnen – genau diesen neuen Reiz hatten wir gebraucht.»
Doch im Hinblick auf den gestrigen Erfolg genauso wichtig: Unter der Regie des Neuseeländers war das Quartett nun bereit, ein Risiko einzugehen, das es eben auf diesem Niveau manchmal auch braucht, um am Ende ganz oben zu stehen. Denn nach dem zweiten Platz am Rotsee-Weltcup vor acht Wochen und damals 0,77 Sekunden Rückstand auf WM-Favorit Neuseeland initiierte Wright einen mutigen, aber riskanten Schritt. Statt bis zur WM wie bisher weiterzumachen und dort dann eine sichere Silber- oder Bronzemedaille abzuholen, verpasste er dem Quartett eine Sitzordnung, die es in all den Jahren noch nie hatte, um so die letzten noch fehlenden Zehntelsekunden herauszuholen.
Seine Idee: Weil das Team dann noch kraftvoller und rhythmisch besser agiert, wird es an der WM nicht mehr als Medaillenanwärter antreten, sondern als Goldfavorit. Die Gefahr: Weil das Team in dieser Sitzordnung noch nie eine Regatta bestritten und damit kaum Routine hat, kann das komplexe System unter dem Druck einer WM völlig auseinanderbrechen.
Doch dazu kam es nicht. Stattdessen erkämpften sich Mario Gyr, Simon Schürch, Simon Niepmann und Lucas Tramèr dank ihres hohen Ruder-Niveaus und ihrer Risikofreude im entscheidenden Moment den grössten Erfolg ihrer Karriere – ihrer bisherigen Karriere.
KommentarDie Weltmeisterschaften in den Savoyen sind für die Schweizer Ruderer ein voller Erfolg. Der Triumph des Flaggschiffs, dazu weitere drei Olympia-Startplätze für Rio 2016 geholt – und das im vorolympischen Jahr, in dem die Titelkämpfe stets die am besten besetzten im Rudersport sind. Chapeau!
Der Schweizer Verband profitiert dabei von einem langfristigen Konzept, mit dem nach Peking 2008 begonnen wurde. Damals bauten die Verbandsstrategen eine Generation auf, die sich in allen Bereichen dem Spitzensport verschrieben hat. Athleten, die trotz Verletzungen, teils unerfüllter Erwartungen oder Nichtselektion immer drangeblieben sind. Und als die ersten von ihnen Erfolge einheimsten, diente das den anderen umso mehr als Ansporn.
Das Schweizer Rudern ist im Spitzensportbereich nun auf einem so hohen Niveau wie ewig nicht mehr. Erstmals seit Sydney 2000 wird der Verband 2016 wieder mit mindestens vier Booten bei Olympia vertreten sein. Sollten nicht noch die Fussballfrauen das Ticket lösen, bilden die Ruderer mit ihren elf bereits qualifizierten Athleten die grösste Fraktion in der Schweizer Delegation. Und die Chancen stehen gut, dass sie auch die erfolgreichste Fraktion sind. Der Leichtgewichts-Vierer ist einer der wenigen Schweizer Trümpfe im Spiel um die Olympiasiege. Die anderen Boote, deren Qualifikation ebenfalls keine Zitterpartie war, haben das Potenzial für einen Platz in den Top 6 – mindestens.
Nach Jahren, in denen die Randsportart Rudern wegen mangelnder Medaillenchancen und der fehlenden Breite auf Weltniveau in der Schweiz immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde, bietet sich nun eine einmalige Chance. Im sportlichen Bereich – und beim Ansehen der Sportart hierzulande.
Stefan Klinger, Aiguebelette