Sölden
Ein Duell zweier Philosophien: Odermatt oder Pinturault, wer wird der Star der neuen Ski-Saison?

Sie sind die Topfavoriten für den Sieg im Gesamtweltcup. Während der Franzose Alexis Pinturault auf einen besonderen Rückzugsort vertraut, überzeugt Marco Odermatt durch seine Unbekümmertheit. Doch wer startet besser in die Saison? Am Sonntag in Sölden wissen wir es.

Martin Probst
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Rivalen, die sich verstehen: Alex Pinturault und Marco Odermatt.

Rivalen, die sich verstehen: Alex Pinturault und Marco Odermatt.

Gian Ehrenzeller/Keysytone

Wie gewinnt man den Gesamtweltcup? Alexis Pinturault hat sich einen Bus gekauft. In Sölden, wo an diesem Wochenende die neue Saison beginnt, steht er allerdings noch nicht in der Nähe des Ziels. Lieferschwierigkeiten verhindern dies. Doch wenn die Europasaison im Dezember so richtig beginnt, soll er ­bereit sein. Und zur Geheimwaffe im Duell um den Sieg im Gesamtweltcup werden.

Der alte Bus, mit dem er die grosse Kristallkugel im Vorjahr gewann, bot Pinturault zu wenig Platz zur Erholung. Wo vorher ein Ergometer stand, gibt es im neuen Bus eine Liege für Massagen und andere Therapien. Das Trainingsvelo wird zwar nicht ganz verdrängt, aber besser verstaut.

Wer den Winter als bester Skifahrer abschliessen will, muss über Monate nicht nur konstant und gut Ski fahren, sondern vor allem fit sein. Das Zauberwort heisst Regeneration. Und da kommt der Bus ins Spiel. Pinturault zieht sich darin zurück, wenn der Weg ins Hotel zwischen den Läufen oder nach der Besichtigung zu weit ist. Es ist sein Ort der Ruhe. Etwas Luxus. Er sagt:

«Nationen wie Österreich buchen immer perfekte Unterkünfte. Das kann am Ende der Saison den Unterschied machen.»

Er sagt zwar nicht direkt, dass dem französischen Verband dafür die Mittel fehlen. Der Bus ist aber ein Indiz dafür.

Im vergangenen Winter hat sein Modell funktioniert. Am 20. März 2021, also exakt an seinem 30. Geburtstag, gewann der Franzose beim Saisonfinale in der Lenzerheide den Gesamtweltcup. Marco Odermatt, sein grösster ­Rivale, war nach dem letzten Riesenslalom der Saison geschlagen. Doch der 24-jährige Schweizer war Pinturault lange ebenbürtig und kam ihm gefährlich nahe.

Es musste aus seinem Kopf: Der Zweite ist nicht erster Verlierer

Fast wäre es also wieder passiert, dass Pinturault einen ganz grossen Titel knapp verpasst. Zweimal war er im Gesamtweltcup schon Zweiter, dreimal Dritter. An Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen gewann er mehrmals Silber und Bronze. Aber nie Gold in einer Kerndisziplin. Einzig in der Kombination und mit dem Team war er schon Weltmeister. Zu wenig für einen, dem früh zugetraut wurde, einmal alles zu dominieren. 34 Weltcup-Siege hin oder her.

Sinnbildlich dafür steht der WM-Riesenslalom im vergangenen Februar. Pinturault führte nach dem ersten Lauf mit grossem Vorsprung. Im zweiten Durchgang schied er aus. Er scheiterte an einer mentalen Zerbrechlichkeit, die sein sonst so strukturiertes Sportler­leben begleitet, wie eine französische Zeitung einmal schrieb. Er scheiterte an der Erwartung, die er vermittelt bekam.

Der Druck ist gross, kann er damti umgehen: Alexis Pinturault

Der Druck ist gross, kann er damti umgehen: Alexis Pinturault

Expa/Johann Groder / APA/APA

Sein Vater hatte ihm schon sehr früh beigebracht, dass der Zweite der erste Verlierer ist. So etwas bleibt im Kopf. Pinturaults Ehefrau Romane sagt: «Vielleicht brauchte es diese Nieder­lage in Cortina, damit er den Gesamtweltcup gewinnen konnte. In der ­Lenzerheide erlebte ich ihn anders. Er sagte sich, ich muss tun, was ich kann. Der Rest ergibt sich auf der Piste.» Die Stimme im Kopf wurde etwas leiser. Pinturault musste nicht mehr siegen, er durfte. Er musste 30 werden, um das zu begreifen.

Wie geht man mit der Last um?

In dieser Saison wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit erneut zum Duell Pinturault gegen Odermatt kommen. Zum Duell zweier Philosophien. Ein erstes Mal am Sonntag im Riesen­slalom von Sölden. Hier Pinturault, der Einzelkämpfer, der vieles im Privatteam macht. Dort Odermatt, den der Gedanke, ohne seine Teamkollegen zu sein, beängstig.

Odermatt ist 24. Ihm gehöre die ­Zukunft, das hört er immer wieder. Marcel Hirscher sagte es. Pinturault ebenso. Über den Franzosen wurde einst dasselbe gesagt. Doch dann stand er lange im Schatten von Hirscher. Die Prophezeiungen wurden für ihn zu einer Last. Und für Odermatt? Dieser sagt: «Einer der Topfavoriten zu sein, ist eine neue Ausgangslage. Es geht nun darum, gut in die Saison zu starten und dann locker zu bleiben. Noch habe ich diese Lockerheit.»

Es ist immer wieder erstaunlich, wie vermeintlich leicht Odermatt mit Druck und den turmhohen Erwartungen umgehen kann. Zweifel beschäftigen ihn nur kurz. Enttäuschungen verarbeitet er schnell. Zum Beispiel jene, als ihm in der Lenzerheide das schlechte Wetter die Chance nahm, Pinturault noch einzuholen. Odermatt sagt: «Spätestens wenn es wärmer wird, ist für mich alles vergessen.»

Blickt positiv in die Zukunft: Marco Odermatt in Sölden.

Blickt positiv in die Zukunft: Marco Odermatt in Sölden.

Gian Ehrenzeller / KEYSTONE

Es sind Aussagen wie diese, die manchmal kaschieren, wie viel Odermatt investiert. Talent allein verleiht auch ihm keine Flügel. Nur gleicht er Trainingsfleiss durch eine gesunde ­Portion Abwechslung in seinem Leben aus. Das war bei Pinturault lange anders. Frühere Teamkollegen nannten ihn «la bête», das Biest, so verbissen, hart und akribisch trainierte er. Er musste erst lernen, dass Ausgleich keine Nieder­lage ist. Dass Erholung nicht Schwäche bedeutet.

Das Gefühl geerbt, als seine ­Mutter schwanger Ski fahren ging

Pinturaults Grossvater eröffnete einst in Courchevel ein Luxushotel. Heute führt es sein Vater. Es steht direkt am Pistenrand. Am Skisport kam er gar nicht vorbei, obwohl er, bis er 15 war, auch sehr passabel Fussball spielte. Pinturaults Mutter ist Norwegerin und erzählte einmal einer französischen Zeitung, dass sie mit Alexis schwanger sehr oft Ski ge­fahren sei. Daher habe er wohl den Sinn fürs Gleichgewicht.

In der Tat fasziniert, wie Pinturault die schwierigsten Hänge fast spielerisch leicht meistert. Wenn es bei anderen rumpelt und stäubt, fährt er wie von Zauberhand geführt. Pinturault ist ein begnadeter Techniker. Hier hat er gegenüber Odermatt leichte Vorteile. Dafür beherrscht es der Schweizer besser, in den schnellen Disziplinen ans Limit zu gehen.

Pinturaults Paradedisziplin ist der Riesenslalom, er überzeugt aber auch im Slalom und Super-G. Odermatt ist ebenfalls im Riesenslalom brillant, er hat aber auch in Super-G und Abfahrt Stärken. In der neuen Saison gibt es zusammengezählt gleich viele Slaloms und Riesenslaloms wie Abfahrten und Super-G. «Damit wird das Rennen im Gesamtweltcup fairer», sagt Odermatt. Pinturault sagt: «Wer Riesenslalom, Slalom und Super-G fährt, hat insgesamt ein Rennen weniger, als wer auf Riesenslalom, Super-G und Abfahrt setzt.»

Das Duell ist eröffnet. Odermatt will dafür sorgen, dass Pinturault Ruhe im Bus braucht.