Tour de France
Tour-Sieger Jonas Vingegaard – ein Spätzünder mit Widerstandskraft

Der 25-jährige Däne Jonas Vingegaard ist ein Tour-de-France-Sieger ganz gegen die Branchenlogik.

Tom Mustroph
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Lange hatte ihn niemand auf dem Radar: Jonas Vingegaard.

Lange hatte ihn niemand auf dem Radar: Jonas Vingegaard.

Bild: Thibault Camus/AP (Paris, 24. Juli 2022)

Mit Jonas Vingegaard gewinnt ein junger Athlet die Tour de France, der anders ist als viele seiner Vorgänger. Sein Aufstieg wurde nicht von einem Raunen über seine Qualitäten schon in Jugendjahren begleitet, wie es bei seinem unmittelbaren Vorgänger Tadej Pogacar, Jan Ullrich oder Alberto Contador der Fall war.

Er ist auch kein Patron, der seine Sichtweise über die Art und Weise, in der gefahren werden soll, mit einem Überschuss an Testosteron durchsetzt wie einst Lance Armstrong.

Schaufahren auf zwei Rädern

Der Däne ist ein eher ruhiger Geselle. Auch jetzt, in den Tagen seines grössten Triumphes, wirkt er wie jemand, der noch nicht fassen kann, was ihm geschieht. Nach dem Zeitfahren am Samstag, als sein Gesamtsieg feststand, sagte er:

«Ich kann es selbst kaum glauben. Es ist das grösste Radrennen der Welt. Und ich habe es gewonnen.»

Am Sonntag ging es traditionell nicht mehr um das Klassement. Für den Gelben ist es ein Schaufahren auf zwei Rädern. Für seine Unterlegenen wie Titelverteidiger Tadej Pogacar bot dies Gelegenheit zur Frustverarbeitung in Bewegung an frischer Luft.

Zweiter Etappensieg für Jasper Philipsen

Nur die Sprinter im Peloton krönten auf der breiten Prachtstrasse im Zentrum von Paris den Besten unter ihnen. Als ein solcher schälte sich Jasper Philipsen heraus. Der Belgier vom Team Alpecin-Deceuninck holte sich seinen zweiten Etappensieg und setzte sich vor Dylan Groenewegen und Alexander Kristoff durch.

Jonas Vingegaard und der zweitklassierte Tadej Pogacar (links) vor dem Triumphbogen in Paris.

Jonas Vingegaard und der zweitklassierte Tadej Pogacar (links) vor dem Triumphbogen in Paris.

Bild: Garnier Etienne/EPA

Der Beste der Tour war aber unumstritten Vingegaard. Auf fast jedem Gelände war er exzellent. In der Addition beider Zeitfahren wies er Pogacar in die Schranken. Auf den langen Rampen in den Alpen und den Pyrenäen war er ohnehin der mit Abstand Beste. «Mit ihm hat der beste Kletterer der Tour zu Recht das Bergtrikot gewonnen», sagte auch Simon Geschke.

Dem deutschen Cofidis-Profi hatte Vingegaard in den Pyrenäen das Bergtrikot abgenommen. Geschke fühlte sich danach als «Schaufensterpuppe, die das Trikot nach Paris tragen muss».

An Vingegaards Überlegenheit hatte aber auch er keinen Zweifel. Und auf der letzten Etappe durfte er sich damit trösten, dass ihn das Feld allein über die einzige Bergwertung des Tages rollen liess.

Tadej Pogacar holt das weisse Trikot

Eine schöne Geste für den Mann, der neben Pogacar als einziger der Trikotsammelwut von Team Jumbo-Visma zumindest bis in die dritte Woche noch Paroli bieten konnte. Geschke wurde Zweiter der Bergwertung hinter Vingegaard.

Pogacar holte das weisse Trikot des besten Jungprofis. Gelb und gepunktet ging an Vingegaard. Und das grüne Punktetrikot sass seit dem zweiten Tourtag fest auf den Schultern von Vingegaards Teamgefährten Wout van Aert. Zur enormen Teamperformance kamen noch insgesamt sechs Etappensiege, sieben zweite und drei dritte Plätze.

Es war auch diese kollektive Überlegenheit, die Vingegaard zum Triumph führte. Denn er war eingebettet in ein Team, in dem auch die Helfer Siegfahrer sind. Darin unterscheidet sich Jumbo-Visma von früheren Dominanzrennställen der Tour.

«Mir reicht es nicht, nur als Helfer drei Wochen mitzufahren. Ich will selbst Siege holen. Und ich glaube, damit trage ich auch zum höheren Niveau des Teams bei», erläutert van Aert, selbst dreifacher Etappensieger, die Teamphilosophie. Konnte man derartige Erfolge und Äusserungen von van Aert erwarten, so war der Weg von Vingegaard keineswegs so deutlich vorgezeichnet.

In seiner Jugend gewann der Däne nur sehr selten Rennen. Er litt sogar an übergrosser Aufregung vor jedem Wettkampf. Seine Mutter Karine erzählte einst der französischen Sportzeitung «L’Equipe»:

«Er musste sich vor jedem Rennen übergeben.»

Die Mutter riet ihrem Sohn, dass er doch keine Rennen fahren müsse, wenn das ihn so unter Druck setze. «Er aber sagte mir: ‹Ich liebe das Velo doch so sehr›.» Also machte er weiter, nahm später auch die Dienste eines Sportpsychologen in Anspruch.

Das half offenbar. Vingegaard lernte, die inneren Dämonen zu zähmen. Er hielt als Jugendlicher auch längere Zeiten der Erfolglosigkeit aus, ohne das Velo frustriert in die Ecke zu stellen. Das zahlt sich jetzt aus. Seine mentale Widerstandskraft gleicht seiner physischen Resistenz.

Jonas Vingegaard auf dem beschwerlichen Weg nach Hautacam.

Jonas Vingegaard auf dem beschwerlichen Weg nach Hautacam.

Bild: Daniel Cole/AP

Niemals machte er den Anschein, als würde er unter der Last der Verantwortung, den ersten Toursieg für Jumbo-Visma zu holen, zusammenbrechen. Wie gross der Druck war, gestand er später.

«Wir haben natürlich im Team immer wieder über das Zeitfahren bei der Tour 2020 gesprochen, als Primoz die Rundfahrt noch gegen Pogacar verlor. Wir wollten das auf jeden Fall verhindern.»

Selbst hatte er den schwarzen Samstag für Team Jumbo-Visma im Spital verbracht – bei der Geburt seiner Tochter Frida. Die Tour zu fahren, stand damals für ihn noch nicht an. Erst bei der Vuelta jenes Jahres gab er sein Grand-Tour-Début. Auch das verlief – anders als bei Pogacar, der bei seiner ersten Grand Tour in Spanien gleich Gesamtdritter wurde – von den Ergebnissen her unauffällig.

«Ausser uns hatte niemand an ihm Interesse»

So unauffällig wie der Fahrer selbst. «Jonas war, als er neu zu uns kam, ein junger, zurückhaltender Bursche, der froh war, dass er überhaupt einen Profivertrag hatte. Ausser uns hatte damals niemand an ihm Interesse», sagte Merijn Zeeman, sportlicher Leiter von Jumbo-Visma, dieser Zeitung.

Diese Aussage löst grössere Zweifel am Scouting-System der World-Tour-Rennställe aus. Da werden Gigabytes an Wettkampfdaten analysiert, Prognoseprofile für Nachwuchsfahrer angelegt – aber den Mann, der diese Tour de France gewann, hatte kaum jemand im Visier.

Und auch bei Jumbo-Visma landete Vingegaard nur, weil die damaligen Betreuer vom Entwicklungsteam ColoQuick ihn den Niederländern inständig ans Herz legten.

In einem ähnelt Vingegaard seinen Vorgängern auf dem Siegerpodest auf den Champs Élysées aber doch. Auf die Frage, ob seine Leistung glaubwürdig sei, sagte er über sich uns sein Team nur:

«Wir sind alle sauber, jeder von uns. Niemand von uns nimmt etwas Illegales, ihr könnt uns vertrauen.»

Das ist die Standardbitte aller Toursieger. Nur die Zeit wird zeigen, ob ihr mehr Wahrheitsgehalt angehört als Beteuerungen vieler seiner Vorgänger.