Wer von namhaften Experten im US-Open-Final gegen die Weltnummer 1, den Bewegungskünstler Novak Djokovic, als Favorit gehandelt wird, muss Grosses draufhaben. So wie Roger Federer.
Jörg Allmeroth
Am Ende eines langen Grand-Slam-Freitags wirkte es, als sei der sensationelle Halbfinal-Rausschmiss von Domina Serena Williams genug Spektakel gewesen. Was in der Abendshow lief, war machtvolles Einbahnstrassen-Tennis, zuerst von Frontmann Novak Djokovic gegen Titelverteidiger Marin Cilic (6:0, 6:1, 6:2), später dann auch von Maestro Roger Federer gegen Landsmann Stan Wawrinka (6:4, 6:3, 6:1). Das Beste soll und wird wohl erst noch kommen, dann, wenn Djokovic und Federer sich wiedersehen, im US-Open-Final am Sonntag (ab 22 Uhr), im 42. Duell (21:20 für Federer), im Arthur-Ashe-Stadion, der grössten Tennisarena der Welt.
Nummer 1 gegen Nummer 2 der Rangliste, die beiden beherrschenden Spieler des Turniers, kein Zweifel: Das ist der würdige, angemessene, spannungsgeladene Schlussakt im Big Apple und der Grand-Slam-Saison. «Ich kann es kaum erwarten, auf den Platz zu gehen», sagt Federer, der verblüffende Altmeister, der seit Wochen spielt, als sei er in einen Jungbrunnen gefallen. Seit er Anfang August 34 Jahre alt geworden ist, hat er noch kein Spiel, nicht einmal einen Satz verloren. «Ich habe ihn nie besser gesehen», sagt TV-Plaudertasche John McEnroe, «dieser Mann ist ein absoluter Kracher.»
Federer hat tatsächlich wie kein zweiter Spieler bei diesen Grand-Slam-Festspielen überzeugt. Er hat alle denkbaren Herausforderungen der zweiten Woche mit eleganter Leichtigkeit gemeistert, ob nun gegen den Aufschlagriesen John Isner (Achtelfinal), den französischen Ästheten Richard Gasquet (Viertelfinal) oder auch gegen Kumpel Stan Wawrinka im Halbfinal. Aber keiner als Federer weiss besser, dass das Schwerste vor dem Schönsten, dem Titelgewinn, steht – nämlich ein Major-Match über drei Gewinnsätze gegen den Bewegungskünstler Djokovic.
Der Serbe spielte sich eher solide als superb in das ultimativ letzte New Yorker Duell vor, aber er ist gefürchtet für seine Qualität, in den entscheidenden Spielen noch einmal substanziell zulegen zu können. Bereit zu sein für den grossen Augenblick. «Du musst da sein, wenn es zählt», sagt Djokovic. Dabei dürfte der Becker-Schützling auch und besonders an Wimbledon denken, an die Jahre 2014 und 2015, als er Federer nach dessen Glanzläufen dann im Final kalt abservierte. «Trotzdem ist Roger für mich der grosse Favorit», sagt Ex-Star Jim Courier, «sein Selbstbewusstsein, sein Spiel, sein ganzer Auftritt hier bei den US Open – das ist imponierend.»
Nie schien die Aussicht auf den 18. Grand-Slam-Titel für Federer so gross wie im Hier und Jetzt – auf dem Höhepunkt seiner späten Tenniskampagne, in der Paraderolle des neu erfundenen, hyperaggressiven Maestro. Vor sechs Jahren stand er letztmals im US-Open-Final, vor drei Jahren gewann er seinen letzten Major-Pokal auf den Grüns von Wimbledon. Und nun, als 34-jähriger Familienvater mit Zwillingstöchtern und Zwillingssöhnen, steht er tatsächlich immer noch davor, die Tennis-Geschichtsbücher umzuschreiben – mit der Chance, in New York die Welt als ältester Champion der Profi-Ära zu grüssen und auch zu erstaunen. «Die Extraschichten Arbeit, die ich investiert habe zuletzt, zahlen sich aus», sagt Federer. Mit seinem grandiosen Sturm und Drang erscheint er wie eine bessere Kopie seines Beraters Stefan Edberg, jenes angriffslustigen Schweden, der 1991 und 1992 die US Open kontrolliert und gewonnen hatte. «Jetzt muss ich mich für das belohnen, was ich gezeigt und geschafft habe bisher», sagt Federer.
Heute Abend wird er die Antwort kennen, nach Match 42 in der grossen Fortsetzungsserie gegen Djokovic.
Auf- und Absteiger 2015 all. In der Nacht auf Montag geht das Grand- Slam-Jahr schon wieder zu Ende, traditionell mit dem Männer-Final der offenen amerikanischen Tennismeisterschaften. Und wer waren die Auf- und Absteiger dieser Saison 2015, die Gewinner und Verlierer? Man ist, und das ist ja auch gut so, sofort wieder bei allen Schweizer Topspielern, bei diesem keineswegs kleinen Gesamtkunstwerk mit den Herren Federer und Wawrinka und den Damen Bencic, Bacsinszky und Hingis. Man staunt eben nicht nur wegen des aktuell wieder überragenden Auftritts im Kollektiv, sondern auch wenn man einen Blick auf die letzten achteinhalb Monate wirft.
Grosse Saison für die Schweiz
Wer hätte vor den ersten Ballwechseln im Januar im Mittleren Osten und in Australien schon ernsthaft gedacht, dass eine Timea Bacsinzky unter die Top 15 rauschen könnte, dass Belinda Bencic bereits Serena Williams zu schlagen vermag und auch noch ans Tor zu den Top Ten anklopft? Und wer hätte auf einen French-Open-Champion Stan Wawrinka gewettet, auf dessen Nachhaltigkeit in der Spitze des Welttennis? Und – auch dies noch – wer hätte Martina Hingis ein so fulminantes Comeback zugetraut, bis hin zur Führungsposition in der Doppel-Weltrangliste mit der Inderin Sania Mirza. Sicher, es wird den einen oder anderen geben, der von sich sagt: Klar, habe ich es gewusst, es auch so erwartet. Doch dazu musste man Superoptimist sein, übrigens auch im Fall des Maestro Roger Federer – denn auch dessen neue schwerelose Leichtigkeit des Seins hätte man jetzt nicht als zwingenden Drehbucheintrag für den Spielfilm des Jahres vorhergesehen.
Kyrgios, der moralische Verlierer
New York, das herausfordernde US- Open-Spektakel im Millionenmoloch – es hat im Grunde die meisten Trends dieser Spielzeit bestätigt und sogar noch verstärkt. Und zu diesen Beobachtungen zählt, dass sich in der Elitegruppe bei den Männern eine personelle Veränderung ergeben hat: Bei den Topturnieren untermauert mit Stan Wawrinka ein zweiter Schweizer nachhaltig seine Klasse und ist so auch zum Serienkandidaten für die Major-Titel geworden. Herausgefallen aus dem kleinen Führungsgremium ist Rafael Nadal, er ist sicher auch der prominenteste Absteiger der Saison, nicht zuletzt weil er sich erstmals seit seinem Premierensieg in Paris 2005 keinen Grand-Slam-Titel mehr in einem Arbeitsjahr sichern konnte. Nadal abzuschreiben, das wäre indes genau so töricht, wie es vorherige Versuche bei Federer waren.
Und dann stellt sich die Frage: Wo sind die Young Guns, wo ist die nächste Generation, wo und wie bringen sich die Stars der Zukunft in Stellung? Die Antwort lautet, schlicht und ergreifend: Sie sind nicht zu sehen, jedenfalls nicht bei den Major-Turnieren. Daran ändert auch der neuerliche Halbfinaleinzug des 26-jährigen Marin Cilic in New York nichts, er kann getrost zu den Etablierten und Erfahrenen gezählt werden. Aber Dimitrow, Raonic, Kyrgios und Co., sie alle haben viel zu viel mit sich selbst zu tun. Und mit den Schwierigkeiten, die richtigen Karriereentscheidungen mit dem richtigen Team zu treffen. Apropos Kyrgios. Er ist geschlechterübergreifend der moralische Verlierer der Saison, der Beleidiger von Wawrinka. Gut zu sehen, dass es noch Institutionen gibt, die nicht vor Sanktionen gegen allüren- oder auch proletenhafte Jungstars zurückschrecken: Beim Davis-Cup-Halbfinal der Australier in Britannien ist Kyrgios in der Woche nach dem US Open nicht dabei, eine wahrlich wohlverdiente Denkpause.
Williams in einer eigenen Liga
Aufsteigerin ist sie nicht, aber die wichtigste, erfolgreichste Persönlichkeit im Frauentennis – die unverwüstliche Serena Williams, 33 Jahre alt, mit grösserem Titelhunger als je zuvor ausgestattet, aber auch nie ganz gefeit vor Rückschlägen wie im New-York-Halbfinal gegen Vinci. Im Fall Williams muss man schon weiter zurückblicken, um einen Zeitpunkt zu finden, an dem man noch von ihren Erfolgen überrascht gewesen wäre. Seit zwei, drei Jahren ist das nicht mehr so, da ist die Kalifornierin immer die grösste Titelanwärterin bei jedem relevanten Turnier. Und meistens dann auch die Siegerin. Nach Williams kommt erst mal lange Zeit nichts, und alle, die ihr dann folgen, scheinen in einer anderen Gewichts- und Bedeutungsklasse zu spielen – selbst eine Maria Scharapowa.
Ivanovic erfreut die Paparazzi
Zu den erfreulicheren Erscheinungen 2015 gehört zweifellos die spanische Wimbledon-Finalistin Garbine Muguruza, sie machte neben Bencic und Bacsinszky den stärksten und gehaltvollsten Sprung nach vorn. Auch die Weissrussin Viktoria Azarenka spielte sich nach einer langen Verletzungspause wieder hoch in den Charts, sie hat neben der Tschechin Petra Kvitova die nötige Schlagpower, um im Idealfall hier und da mit Williams mitzuhalten.
Und dann noch die boulevardeske Personalie des Jahres, bisher jedenfalls: Diese Auszeichnung geht an die schöne Serbin Ana Ivanovic und ihren
Lebensabschnittsgefährten Bastian Schweinsteiger. Über dieses Pärchen freut sich ganz besonders eine leicht verrufene Berufsgruppe, nämlich die Paparazzi. In Melbourne, Paris, London oder auch in New York.