Novak Djokovics Zweitrunden-Aus am Australian Open erschüttert die Tennis-Welt. Der 29-jährige Serbe ist weit entfernt von der Souveränität und Leichtigkeit der vergangenen Jahre.
Jörg Allmeroth
Als in der Rod-Laver-Arena das letzte Australian-Open-Stündlein für Novak Djokovic zu schlagen begann, da sass Boris Becker im Spielerrestaurant, in den Katakomben des Stadions. Seit ein paar Wochen ist Becker nicht mehr der Chefcoach des Melbourne-Titelverteidigers, vor Ort kümmert er sich als TV-Experte für Eurosport nun um Analysen über Stars und Sternchen. Aber was Becker auf dem Bildschirm sah, das Straucheln und Scheitern seines ehemaligen Mannes, liess auch ihn zunächst ratlos zurück: «Alle sind im Moment perplex, ich aber ganz besonders», gab Becker zu Protokoll. «Novak war überhaupt nicht richtig da. Er war viel zu defensiv.»
Es war nichts weniger als eine der grössten Sensationen der modernen Tennisgeschichte, über die Becker da sprach – nach drei sonnigen Jahren mit zahlreichen Trophäen und Titeln im Wanderzirkus. Doch von dieser Dominanz, von dieser Souveränität, von dieser Leichtigkeit war Djokovic, der ehemalige Capitano, Lichtjahre entfernt an diesem denkwürdigen 19. Januar 2017. Sicher, Djokovic galt nach Problem-Monaten im letzten Spätsommer und Herbst als angeschlagen, schliesslich hatte er nach einer Sinn- und Ergebniskrise auch Platz eins der Weltrangliste verloren. Doch dass der unlängst noch alles und alle überragende Frontmann in Runde zwei des australischen Grand Slam gegen die Nummer 117 der Charts, gegen den Usbeken Denis Istomin, verlor (6:7, 7:5, 6:2, 6:7 und 4:6), und zwar komplett verdient, das war schlichtweg schockierend. «Ich habe nie einen Rhythmus gefunden», sagte Djokovic.
Djokovics Sturz war einerseits ein persönliches Rätsel, aber er bedeutete auch eine seismische Erschütterung für dieses Turnier und für den ganzen Tenniskosmos. «Die Australian Open haben sich gerade komplett verändert. Und es gibt eine neue Weichenstellung für das Jahr», sagte Becker. In der Tat: Mit Djokovics Aus scheint erst einmal die Führungsposition für den Schotten Andy Murray über viele weitere Monate zementiert. Und eine ganz andere Frage stellte sich nun eher, nach dem Debakel des Serben an seinem Lieblingsschauplatz, am Ort seiner sechs erfolgreichen Titelmissionen – eine Frage, die Becker unterschwellig andeutete: War Djokovic überhaupt noch der erste Herausforderer für Murray – oder gibt es nun neue Gesichter und Rivalen, die «Sir Andy» gefährlich werden können? Fakt ist: Bis zu den French Open hat der taumelnde «Djoker» dicke Punktepakete zu verteidigen, es könnte also für den neuerdings labilen Championspieler weiter abwärtsgehen.
Seit dem French-Open-Sieg der Vorsaison ist Djokovics Tenniswelt rasch und brutal aus den Fugen geraten – daran ändern auch die späteren Finalteilnahmen bei den US Open und bei der WM in London nichts. Alles, was vorher Djokovics Regime im Tourbetrieb ausmachte, wirkt nun wie Zauber von gestern: Die extrem hohe Intensität im Spiel, der Instinkt bei den Big Points, der zupackende Wille – all das ist irgendwie auf der Strecke geblieben nach dem Pariser Coup. Eben noch bewundert für sagenhafte Konstanz, für den unvergleichlichen Punch, für Ausdauersiege, wirkt es nun fast wunderlich, wie schroff der Leistungseinbruch bei dem Mann aus Belgrad zu Tage tritt.
Von wegen Djokovic-Aura, von wegen Selbstbewusstsein: Selbst einen 2:1-Satzvorsprung konnte der Weltranglisten-Zweite nicht nach Hause spielen gegen Istomin. Der, das sei angemerkt, hatte in der Saison 2016 nur ein einziges Mal zwei Matches hintereinander gewonnen, auf Wimbledons grünen Tennisfeldern. Kein Wunder, dass er selbst am meisten über den Centre-Court-Coup verblüfft war: «Ich kann es, ehrlich gesagt, immer noch nicht fassen. Das ist der Hammer.» Umso mehr, da er, der Überraschungsmann, ab dem dritten Satz immer wieder von Krämpfen geplagt wurde und sich mit leidenschaftlicher Moral ins Ziel retten musste. Doch genau damit hatte er den zählenden Vorteil gegenüber Djokovic, dem schlicht und einfach der nötige Biss fehlte. «Nun steht Novak noch mehr unter Druck», befand Becker, «denn der Sieg in Melbourne war immer ein gutes Fundament für das restliche Jahr.»
19-mal Final, viermal Halbfinal, einmal Viertelfinal – so lautete Djokovics Grand-Slam-Bilanz seit den ersten Tagen der Saison 2011. Und nun: Zweitrunden-Aus gegen Denis Istomin, die erste Niederlage überhaupt gegen einen Spieler jenseits der Top 100. Becker, der Übungsleiter 2014 bis 2016, sagte, Djokovic habe es im letzten Herbst auch ein wenig in der Trainingsarbeit schleifen lassen. Aber war das nun die Ursache für das aktuelle Scheitern? Oder Beckers Abgang und die Hinwendung Djokovics zu Ideen eines spanischen Mentalgurus? Djokovic machte einen fitten Eindruck. Nur seine neue Verkrampftheit und eine gewisse Leblosigkeit konnte er nicht lösen, als er dann auf dem Platz stand. Er kann im Moment tun und lassen, was er will. Aber er ist, in jeder Beziehung, nicht mehr der Novak Djokovic, der er noch vor einem Jahr war.
Melbourne. Australian Open. Grand-Slam-Turnier (37,8 Mio. Franken/Hart). Männer. 2. Runde: Istomin (UZB) s. Djokovic (SRB/2) 7:6 (10:8), 5:7, 2:6, 7:6 (7:5), 6.4. Raonic (CAN/3) s. Muller (LUX) 6:3, 6:4, 7:6 (7:4). Monfils (FRA/6) s. Dolgopolow (UKR) 6:3, 6:4, 1:6, 6:0. Thiem (AUT/8) s. Thompson (AUS) 6:2, 6:1, 6:7 (6:8), 6:4. Nadal (ESP/9) s. Baghdatis (CYP) 6:3, 6:1, 6:3. Goffin (BEL/11) s. Stepanek (CZE/Q) 6:4, 6:0, 6:3. Bautista Agut (ESP/13) s. Nishioka (JPN) 6:2, 6:3, 6:3. Dimitrov (BUL/15) s. Hyeon (KOR) 1:6, 6:4, 6:4, 6:4. Gasquet (FRA/18) s. Berlocq (ARG) 6:1, 6:1, 6:1. Karlovic (CRO/20) s. Whittington (AUS) 6:4, 6:4, 6:4. Ferrer (ESP/21) s. Escobedo (USA/Q) 2:6, 6:4, 6:4, 6:2. Zverev (GER/24) s. Tiafoe (USA/Q) 6:2, 6:3, 6:4. Simon (FRA/25) s. Dutra Silva (BRA) 6:4, 6:1, 6:1. Carreño Busta (ESP/30) s. Edmund (GBR) 6:2, 6:4, 6:2. Kohlschreiber (GER/32) s. Young (USA) 7:5, 6:3, 6:0.
Frauen. Einzel. 2. Runde: Bacsinszky (SUI/12) s. Kovinic (MNE) 6:1, 7:6 (7:5). Williams (USA/2) s. Safarova (CZE) 6:3, 6:4. Baroni (CRO) s. Radwanska (POL/3) 6:3, 6:2. Pliskova (CZE/5) s. Blinkowa (RUS/Q) 6:0, 6:2. Cibulkova (SVK/6) s. Su-Wei (TPE) 6:4, 7:6 (10:8). Konta (GBR/9) s. Osaka (JPN) 6:4, 6:2. Wesnina (RUS/14) s. Minella (LUX) 6:3, 6:3. Strycova (CZE/16) s. Petkovic (GER) 6:0, 7:5. Wozniacki (DEN/17) s. Vekic (CRO) 6:1, 6:3. Garcia (FRA/21) s. Dodin (FRA) 6:7 (3:7), 6:4, 6:4. Gavrilova (AUS/22) s. Konjuh (CRO) 6:2, 1:6, 6:4. Sakkari (GRE) s. Cornet (FRA/28) 7:5, 4:6, 6:1. Makarowa (RUS/30) s. Errani (ITA) 6:2, 3:2 Aufgabe. Ostapenko (LAT) s. Putinzewa (KAZ/31) 6:3, 6:1. – Doppel. 1. Runde: Hingis/Vandeweghe (SUI/USA/5) s. Jankovic/Wickmayer (SRB/BEL) 6:3, 6:4. Golubic/Pliskova (SUI/CZE) s. Bondarenko/Ostapenko (UKR/LAT) 6:3, 7:5.