Zertifikate könnten als Startschuss für ein Sozialkreditsystem verstanden werden. Diese Infrastruktur will der Bund nun länger überleben lassen.
Inmitten des Chaos des 6. Jahrhunderts vor Christus, als auf dem Gebiet des heutigen Chinas verschiedene Staaten schier endlos miteinander um die Vorherrschaften kämpften, lebte Konfuzius, mutmasslicher Schüler des alten Meisters Laotse.
In seiner Lebensführung versuchte er, Wohlwollen und Integrität zu vereinen. Seine Lehren moralischen, sozialen, und politischen Handelns wurden zur Grundlage eines philosophischen Systems, das heute als Konfuzianismus bekannt ist. Dieses legt seinen Fokus auf die Selbstkultivierung und das geschulte Urteilsvermögen des Menschen. Und so lautet eine der Lehren des Konfuzius: «Was du nicht willst, das man dir tut, das füg’ auch keinem anderen zu.»
Anders als Laotse, der ein Leben in Harmonie mit der natürlichen Ordnung des Universums hervorhob, war Konfuzius zeitlebens Verfechter einer autokratischen Gesellschaftsstruktur. Nach seinem Tod wandten sich deshalb viele Herrscher an seine Schüler, um von ihnen eine konfuzianische Beratung bei der Verwaltung ihrer Reiche sowie der Führung ihrer Völker zu erhalten. Der Konfuzianismus fand Anklang, weil seine Prinzipien den Herrschern ermöglichten, die Völker mittels einer Art «Reputationssystems» zu verwalten, das darauf abzielte, Integrität zu fördern, Unehrlichkeit zu bestrafen und ein Umfeld des Vertrauens aufzubauen.
Und heute? Im Jahr 2010 startete die chinesische Regierung in einer Provinz nördlich von Schanghai ein Pilotprojekt für ihr Sozialkreditsystem, in dem Bürgerinnen und Bürger Punkte für «Vertrauenswürdigkeit» erhalten und Punkte für «negatives» Verhalten abgezogen werden. Das System bietet Menschen mit hohem Score Anreize, wie etwa bevorzugten Zugang zu Diensten, Reisevisa sowie Beförderungen. Hierfür wird es aus Quellen privater Gesundheitsdaten, besuchter Orte, Informationen von Gesichtserkennung sowie weiterer Fakten über Beziehungen, Freunde und Familie ergänzt. Nach und nach führten weitere chinesische Provinzen ähnliche Systeme ein.
Basis dieser Systeme ist eine Big-Data-Infrastruktur, die Daten aus sozialen Medien, zu Wahlverhalten, Finanzinformationen, Online-Einkäufen, Kreditvergangenheit, Steuerzahlungen oder auch Rechtsangelegenheiten sammelt und sie zum genannten Score zusammenfasst. Die Infrastruktur soll, wie es von offizieller Seite heisst, die «Vertrauenswürdigkeit» der chinesischen Bevölkerung verbessern. Die Menschen, welche sich ein pluralistisches Politsystem in China wünschen, befürchten hingegen, dass die Regierung unter dem Vorwand der Förderung von traditionellen Tugenden die Bevölkerung überwacht. In China ist Überwachung also keine Science-Fiction mehr, sondern Tatsache.
Wie steht es hierzu um die Schweiz? Die Schriftstellerin Sibylle Berg, die sich gegen Überwachung ausspricht, warnte uns im letzten Herbst vor dem Einsatz einer Zertifikatsinfrastruktur, die unsere Teilnahme oder Nichtteilnahme im Alltag ermöglicht oder verhindert. Sie schrieb, dass mit dieser Art binären Gesundheitsnachweis die Infrastruktur für eine Überwachung gelegt werden kann, an die sich die Bevölkerung langsam gewöhne. Auch meine hier geäusserten Bedenken bezüglich der Beständigkeit dieser Infrastruktur zeigen in eine ähnliche Richtung, da Zertifikate als Startschuss für ein Sozialkreditsystem verstanden werden können.
Diese Infrastruktur will der Bund nun aber länger überleben lassen. Sie könnte ein «Schritt in eine mögliche Dystopie» sein, warnt uns Berg, da diese «Zugang zu Transport, Versorgung usw. nur noch nach Punkten, Verhalten, Gesundheitsstatus, ökologischem Fussabdruck» ermöglichen könnten. Liebe Parlamentarierinnen und Parlamentarier, denkt nochmals über diese Infrastruktur nach und orientiert euch dazu am besten an einem letzten Rat des Konfuzius: «Übers Ziel hinausschiessen ist eben so schlimm, wie nicht ans Ziel zu kommen.»
Der gebürtige Luzerner Edy Portmann ist Informatikprofessor und Förderprofessor der Schweizerischen Post am Human-IST-Institut der Universität Freiburg.