In den Verhandlungen um einen neuen Landesmantelvertrag liegen die Positionen so weit auseinander, dass ein Abschluss vor Ende Jahr fraglich erscheint. Die von den Gewerkschaften angekündigten Streiks scheinen unausweichlich.
Der Landesmantelvertrag ist ein Monument der partnerschaftlichen Konsensfindung im Bauhauptgewerbe. Von der Znünipause über die Mittagszulage bis hin zum Extrageld für die Schwerarbeit mit dem Kompressor regelt das 157-Seiten starke Opus unzählige Einzelheiten, über die sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber sonst ständig streiten müssten. Die zentralen Eckpunkte des Vertrages bilden natürlich nicht diese vielen Details,sondern elementare Aspekte wie die Höhe der Mindestlöhne oder die Dauer der bezahlten Ferien.
Einen solchen Vertrag, der für das ganze Bauhauptgewerbe allgemein verbindlich ist und der die Grundlage für die arbeitsrechtliche Situation von mehr als 100 000 Beschäftigten darstellt, kann es selbstredend nur geben, wenn er für alle direkt und indirekt Beteiligten mehr Vorteile als Nachteile bringt.
Das ist der Konsens, auf den sich die Parteien seit 80 Jahren im Drei- oder Vierjahresrhythmus immer wieder nach mehr oder weniger schwierigen Verhandlungen einigen konnten. Den Arbeitgebern verschafft die vertragliche Friedenspflicht Sicherheit in der Projektabwicklung. Zudem verringert der Vertrag das Risiko, dass der Staat Einfluss auf die Lohnpolitik nimmt. Die Arbeitnehmer ihrerseits profitieren von einem akzeptablen Mindeststandard der Arbeitsbedingungen.
Eine wichtige Errungenschaft ist der Mindestlohn. Dieser verhindert, dass sich die Arbeitnehmer in Krisenzeiten mit fallenden Löhnen selber kannibalisieren. Auf der Hand liegt deshalb, dass auch der Staat ein grosses Interesse an einer solchen Schutzbestimmung hat. Denn für die Verlierer auf dem Arbeitsmarkt müsste letztlich er respektive die Allgemeinheit aufkommen. Diese Logik veranlasste den Bundesrat vor zehn Jahren den früheren Leiter des Bundesamtes für Industrie Gewerbe und Arbeit (heute Seco) Jean-Luc Nordmann als Mediator einzusetzen, als eine erfolgreiche Erneuerung des Landesmantelvertrages im Bau in der Schwebe stand. Nachdem die Baumeister den Vertrag im Herbst 2007 gekündigt hatten, rangen die Sozialpartner bis im April 2008 um die Festlegung neuer Löhne und Arbeitszeiten. 250 Baustellen standen tageweise still. Noch heftiger zu und her ging es nur noch am 4. November 2002, als landesweit 15 000 Bauarbeiter die Arbeit niederlegten, um die Baumeister zur Einwilligung auf den «Flexiblen Altersrücktritt» (FAR) – die Möglichkeit zur Pensionierung ab 60 Jahren bei 80 Prozent des bisherigen Lohnes – zu zwingen.
Nun sitzen die Sozialpartner im Bau wieder zusammen, um den Ende Jahr auslaufenden Landesmantelvertrag zu erneuern. Und diesmal kommt alles zusammen, was in den Jahren 2002 und 2007 zu den bisher grössten Unruhen in der Branche führte. Die Stiftung FAR, aus der die Sozialpartner die Frühpensionierung der Bauarbeiter finanzieren, ist ein Sanierungsfall. Ohne Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen ist sie nicht zu retten. Eine scheinbar einvernehmliche Lösung, zu der die Baumeister im August nach längerem Zögern Hand geboten hatten, steht plötzlich wieder in der Schwebe. 150 Franken mehr Lohn für alle, und die Arbeitnehmer erhöhen ihren Anteil an den Beitragsleistungen, so hatte die scheinbare Lösung ausgesehen.
Doch nun, wo die Verhandlungen um den Landesmantelvertrag so richtig beginnen, sieht alles viel schwieriger aus. Die Arbeitgeber erneuern ihre alte Forderung nach einer grösseren Flexibilität der Arbeitszeit und verlangen, dass saisonale und wettbewerbsbedingte Auftragsschwankungen mit bis zu 200 Mehr- beziehungsweise mit bis zu 100 Minderstunden ausgeglichen werden können. Die Gewerkschaften laufen Sturm. So steige die durchschnittliche Arbeitszeit eines Bauarbeiters von März bis Dezember auf bis zu 9,5 Stunden, sagt Nico Lutz von der Gewerkschaft Unia – ein No-Go. Mehr noch: Die Baumeister möchten auch, dass für «Praktikanten», die weniger als vier Monate arbeiten, die Mindestlöhne nicht mehr gelten. Es gehe um Lehrabbrecher, Studenten und Flüchtlinge, die erwerbslose Zeit überbrücken oder sich Praxis aneignen möchten, sagen die Baumeister. Doch Unia wittert den Versuch, den Lohnschutz für Schweizer Arbeitnehmer auszuheben. Ausländische Baufirmen, die während 90 Tagen bewilligungsfrei in der Schweiz arbeiten dürfen, würden die Lücke nützen und die Löhne mit Pseudopraktikanten aus dem Ausland drücken, warnt Lutz.
Damit markiert Lutz die harte Linie, welche die Gewerkschaften in Bezug auf den Schutz des heimischen Arbeitsmarktes für ausländische Konkurrenz einnehmen. Jene, die sie bereits mit ihrer Haltung zu den flankierenden Massnahmen, die in den Verhandlungen über ein EU-Rahmenabkommen um jeden Preis verteidigt werden sollen, schon vertreten. Die Positionen der Sozialpartner im Ringen um den Landesmantelvertrag liegen somit meilenweit auseinander. Das zeigt auch die Entschlossenheit der Gewerkschaften, die ab Mitte Oktober mit der tageweisen Stilllegung grosser Baustellen in verschiedenen Landesteilen beginnen wollen.
Im Risiko stehen dabei zunächst die grossen Baufirmen, deren Grossbaustellen erfahrungsgemäss Hauptziel von Streikaktionen sind. Es waren eben diese Grossfirmen, die im Ringen um den Gesamtarbeitsvertrag in der Vergangenheit jeweils den Ausschlag zur Lösung gaben. Diesmal könnte es anders sein. Auch im Baugewerbe sind Grossfirmen wie Implenia in den vergangenen Jahren auf Kosten von kleinen und mittleren Betrieben stark gewachsen. Wenn sich diese gestiegene Marktmacht auf die Forderungen niedergeschlagen hat, müssten die Gewerkschaften heuer mit deutlich mehr Gegenwehr rechnen.