Am Münchner Oktoberfest inszeniert sich Deutschland als die europäische Biernation schlechthin. Dabei gebührt der Titel Belgien.
Fabian Fellmann, Brüssel
Heute ist wieder soweit: Ab sofort gehen wochenlang Bilder von prallen Mädels mit vollen Bierkrügen um die Welt. Es ist Oktoberfest, und München inszeniert sich als Bierhauptstadt Europas. Bierkenner beeindruckt das indes wenig. Sie wissen: Gutes Bier muss nicht im Steinkrug und schon gar nicht literweise kommen. Noch besser schmeckt es aus einem Kelch, der nur 2 bis 3 Deziliter fasst. So degustieren die Belgier ihr Bier. Und ihnen gebührt eigentlich der Titel der Biernation Europas.
Zwar knackt Deutschland alle Zahlenrekorde. Knapp 1400 Brauereien stellen die unvorstellbare Menge von rund 100 Millionen Hektoliter Bier pro Jahr her, was knapp 4000 olympische Schwimmbecken füllen würde. 107 Liter fliessen in einem Jahr pro Kehle. Hinter diesen Zahlen verschwindet Belgien beinahe mit seinen 160 Brauereien, 18 Millionen Hektolitern Bier und 72 Litern Konsum pro Kopf.
Die Exportstatistiken aber zeigen, wer in Europa der wahre Meister der Braukunst ist. Das grosse Deutschland führt 15 Millionen Hektoliter aus, ein Sechstel seiner Produktion. Die Belgier hingegen verkaufen 11 Millionen Hektoliter ausserhalb ihres kleinen Landes, deutlich mehr als ein Drittel des hergestellten Biers. Der Exporterfolg ist unter anderem dem grössten Bierkonzern der Welt zu verdanken, der seinen Sitz in Brüssel hat, aber zurückgeht auf eine alte Brauerei in der flämischen Stadt Löwen. «Anheuser-Busch InBev» heisst das Unternehmen, das 2008 aus einem Zusammenschluss von brasilianischen, US-amerikanischen und belgischen Braugiganten entstanden ist. Ihm gehören die belgischen Biermarken Stella Artois, Leffe und Hoegarden sowie weitere weltbekannte Marken wie Budweiser, Corona oder Becks.
Es sind indes die kleineren Brauereien im Schatten der grossen ABInBev, welche Belgien zur europäischen Biernation Nummer 1 machen. Mehr als 750 Biersorten zählt der belgische Bierbrauerverband, und stets kommen weitere hinzu. Die Bandbreite ist dabei riesig: von blonden Lagerbieren über erfrischende Weissbiere bis zu 12 Volumenprozent starken Klosterbieren. Eine Neukreation dieses Sommers ist das «Cheeky Kamille», ein Pale Ale mit Kamille, aus den Bottichen des «Brussels Beer Project».
Die Kleinbrauerei mitten im hippen Brüsseler Dansaert-Quartier ist derzeit voll im Umbruch: Mitte August wurden grosse Tanks angeliefert. Bald soll dann alles Bier des Projekts in einem unscheinbaren Hinterhofbau entstehen. Bisher wurde es dort nur entwickelt, dann aber bei einer Auftragsbrauerei in Antwerpen hergestellt.
Das Brussels Beer Project feiert in Belgien einen riesigen Erfolg, weil es zwar auf der Tradition aufbaut, aber ganz neue Wege geht. Das beginnt bei den Namen der Biere – das Hefeweizen heisst Grosse Bertha, ein dunkles India Pale Ale nennt sich Dark Sister – und reicht bis zu den Zutaten. Baby Lone zum Beispiel, eine Kreation dieses Frühlings, wird mit Brotresten statt Malz gewürzt. Innert zweier Monate konnten die Projektbrauer zwei Tonnen Altbrot vom Grossverteiler Delhaize verwerten. «In zwei bis drei Jahren möchten wir das gesamte Altbrot von Delhaize für unsere Biere nutzen», sagte Olivier de Brauwere, Co-Gründer des Unternehmens.
Dieses hat er erst vor zwei Jahren zusammen mit einem Kollegen ins Leben gerufen. Ihr Ziel: Eine Brauerei nahe an den Kunden. Sie brauen nach dem Vorbild amerikanischer Kleinbrauereien Spezialbiere in kleinen Mengen, lassen die Kunden via soziale Medien daran teilhaben und geben ihnen schliesslich die Wahl, welche Kreationen in grösseren Mengen produziert werden.
Auch das Geld für ihr Unternehmen trieben die Jungbrauer im Internet auf, mit Crowdfunding, bei dem eine Vielzahl von Leuten einen kleinen Betrag geben. So entsteht ein Bier, das sich von den Industrieprodukten nicht nur durch den Geschmack unterscheidet. «Wir suchen andere Geschmacksrichtungen und eine authentischere Geschichte», sagte de Brauwere.
Für beides bietet Belgien den idealen Nährboden. Als der deutsche Kaiser Karl IV. den Brauern 1364 vorschrieb, sie müssten Hopfen für ihr Bier verwenden statt der früher gebräuchlichen, Grut genannten, Mischung entgingen die Westbelgier dem Diktat. Sie behielten auch ihre herkömmlichen Methoden bei, was der Ursprung der variantenreichen belgischen Bierproduktion sein soll.
Im 20. Jahrhundert ging die Unterscheidung in die entscheidende Phase: In Bayern setzten Brauer das Reinheitsgebot durch, wonach Bier nur mit Wasser, Hefe, Hopfen und Malz gebraut werden darf. Ab den 1960er-Jahren erreichten die Bayern, dass deswegen der Import fremder Biere nach ganz Deutschland schwieriger wurde.
Kritiker bemängeln, dass die deutsche Braubranche deswegen viel Innovationskraft verloren hat und jetzt gegenüber den Brauern aus den USA und Belgien ins Hintertreffen geraten ist. Auch Olivier de Brauwere sagt: «Die amerikanischen Brauer definieren heute die neuen Geschmacksrichtungen auf internationaler Ebene.» Und auf europäischer Ebene sind es junge Belgier wie er selbst. Gefragt sei nicht mehr das stets gleiche Bier, sondern Abwechslung und Überraschung. De Brauwere: «Die Leute trinken weniger, dafür besser: Sie konsumieren Bier mehr als Wein.»