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Weil über 100 Vollzeitstellen bei den Kundenbegleitern fehlen, müssen diese immer häufiger alleine arbeiten. Das sei ein Sicherheitsproblem, warnen sie. Die SBB wiegeln ab.
Wie kann sich ein einzelner SBB-Mitarbeiter um alle Passagiere in einem Fernverkehrszug kümmern, der 400 Meter lang ist und aus zwei voneinander getrennten Kompositionen besteht? Diese Frage stellt sich den Kundenbegleitern der Bahn immer öfter. Denn wegen Personalmangel müssen sie ihre Arbeit zunehmend alleine verrichten, werfen sie den SBB vor.
Mit dem 2018 umgesetzten Reorganisationsprogramm «Kundenbegleitung 2020» verabschiedeten sich die SBB nicht nur vom Berufstitel «Zugbegleiter», sondern auch vom Grundsatz, dass jeder Fernverkehrszug von zwei Mitarbeitern betreut werden sollte. Allerdings versprachen die SBB, dass Kundenbegleiter auch künftig grösstenteils zu zweit unterwegs seien. Auch auf Zügen nach 22 Uhr werde es zwei Mitarbeiter geben.
Hinzu kämen Schwerpunktkontrollen, bei denen punktuell einzelne Züge mit vielen Mitarbeitern gleichzeitig kontrolliert würden. Die Doppelbegleitung werde nur dort abgeschafft, wo mit einem Mitarbeiter der gleiche Service für die Kunden möglich sei, sagte ein Sprecher damals.
Eine Statistik, welche der Zugpersonalverband (ZPV) führt, zeichnet nun allerdings ein anderes Bild. In den letzten Wochen wurden dem Unterverband der Eisenbahnergewerkschaft SEV über 200 Fernverkehrszüge mit Einerbegleitung gemeldet, auf denen es nach Ansicht des Personals zwei Mitarbeiter gebraucht hätte. Dazu gehören etwa Fernverkehrszüge mit zwei Kompositionen, zwischen denen während der Fahrt nicht gewechselt werden kann, aber auch Züge nach 22 Uhr. Von den versprochenen Schwerpunktkontrollen wiederum hat laut dem SEV seit 2018 keine einzige stattgefunden.
«Die Zusagen der SBB werden nicht eingehalten», lässt sich SEV-Sekretär Jürg Hurni in einem Schreiben der Gewerkschaft zitieren. Der Personalmangel sei so gross, dass den Einteilern gar nichts anderes übrig bleibe, als Einzelbegleitungen einzuteilen, damit wenigstens auf allen Fernverkehrszügen ein Kundenbegleiter mitfahre. ‹Es besteht ein Mangel von mehr als 100 Kundenbegleitern im Vollzeitpensum›, so Hurni. «Das Zugpersonal hat zunehmend die Nase voll und verliert das Vertrauen in die Leitung.»
Ralph Kessler ist Präsident des ZPV. Sein Verband führt die Statistik zur Einerbegleitung. Diese habe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sagt er. Die Kundenbegleiter litten unter dem aktuellen Unterbestand. «Wenn auf einem 400 Meter langen Zug nur noch ein Kundenbegleiter mitfährt, haben wir unter gewissen Umständen ein Sicherheitsproblem». Denn diese Züge hielten auch an Bahnhöfen, deren Perrons weniger als 400 Meter lang seien – Situationen, in denen es das wachsame Auge der Kundenbegleiter besonders braucht.
Viele Kundenbegleiter fühlten sich in solchen Situationen unwohl. Die Ursache für den Unterbestand sieht Kessler in einer «katastrophalen Planung». Die gebe es zwar auch beim Lokpersonal, beim Unterhalt oder in der Reinigung, wo sich die SBB mit viel temporären Mitarbeitern behelfe. «Das Problem ist, dass der Unterbestand bei uns leichter kaschiert werden kann. Wenn ein Lokführer fehlt, fährt der Zug nicht. Wenn nur ein Kundenbegleiter eingesetzt wird, fällt das vielen Kunden gar nicht auf».
Der Personalchef der SBB, Markus Jordi, stehe in der Verantwortung. Immerhin zeichne sich eine Besserung ab: Bis Mitte nächstes Jahres solle ein ausgeglichener Personalbestand erreicht werden, die neuen Mitarbeiter seien schon in der Ausbildung. Corona vereinfache die Rekrutierung: «Die SBB dürfte im Moment keine Probleme haben, Leute zu rekrutieren», sagt Kessler.
Die SBB widersprechen der Schilderung der Gewerkschaft in Teilen. So teilt ein Sprecher einen Unterbestand von aktuell rund 60 Vollzeitstellen mit – und damit weniger, als es der SEV kommuniziert. Zudem würden punktuell Schwerpunktkontrollen durchgeführt, so der Sprecher. Aufgrund des Unterbestands konzentriere sich die Bahn aktuell aber darauf, die Zweierbegleitung bei stark ausgelasteten Zügen respektive spät am Abend sicherzustellen. «Das entspricht der gemeinsamen Haltung der SBB und ihrer Sozialpartner.»
Bei Zügen ab 22 Uhr leisteten aktuell auch Mitarbeitende aus dem Sicherheitspersonal Unterstützung, so dass die Kundenbegleiter trotz Unterbestand zu zweit unterwegs seien. «Von Dezember bis Februar kommen rund 130 Mitarbeitende aus der Ausbildung», so der Sprecher. Diese Klassen seien aufgrund des Lockdowns im Frühling um zwei bis drei Monate verzögert, was zur angespannten Situation beitrage. Im Sommer 2021 stiessen dann rund 130 weitere Mitarbeitende dazu.