Mehr Freihandel produziert auch Verlierer, sagt HSG-Professor Gebhard Kirchgässner. Nach der Frustration mit der WTO florieren bilaterale Abkommen.
Gebhard Kirchgässner*: Ich glaube nicht, dass Handel und Globalisierung insgesamt rückläufig sind. Was wir aber seit der Krise beobachten, ist mehr Protektionismus durch nicht tarifäre Handelshemmnisse. Gegen sie kann anders als bei Zöllen nicht im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO geklagt werden. Ausserdem sind die grossen Runden der multilateralen WTO-Abkommen ins Stocken geraten.
Ja, trotz Verhandlungsanläufen schläft die Doha-Runde immer wieder ein – und viele befürchten, dass sie einen stillen Tod stirbt. Ein Problem dabei ist, dass Industrieländer wie die Schweiz, die EU oder die USA ihre Landwirtschaft schützen, die gerade jener Sektor wäre, in dem die Entwicklungsländer ihre Erzeugnisse absetzen könnten. Die Freihandelsbemühungen verschieben sich daher von der Welt-Ebene wieder vermehrt auf regionale Verhandlungen. Die wichtigsten davon sind die laufenden Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen der USA mit Europa und mit dem pazifischen Raum.
Ein Land, das einer Freihandelszone beitritt, gewinnt einerseits einen Absatzraum für Produkte, die es günstig produzieren kann. Und andererseits kann es dort jene Güter einkaufen, die es selbst nur teurer produzieren kann.
Schon wenn zwei Ländergruppen ein Freihandelsabkommen schliessen, ist nicht gesagt, dass jedes Land beider Gruppen profitiert. Ein Beispiel ist die EU-Osterweiterung. Und auch wenn ein Land insgesamt gewinnt: In seinem Innern können sich nicht alle eine Scheibe der Zusatzgewinne abschneiden. In der Regel verlieren auch einige.
Theoretisch ja, aber in der Praxis gelingt das meist nicht – selbst in einer direkten Demokratie, wo man sich wegen möglicher Referenden um mehr Konsens bemühen muss. Es gibt Branchen, die nach einer Marktöffnung leiden. Man kann das höchstens abfedern. Jene Branchen, die verlieren werden, wehren sich daher schon von vorneherein gegen das Abkommen. Obwohl sie eine Minderheit sind, tun sie das oft sehr lautstark und nicht selten mit Erfolg.
Die Schweiz hatte in den letzten Jahrzehnten im Durchschnitt zwar keine berauschenden Wachstumsraten. Dennoch hat sie es dank Freihandel zu beachtlichem Wohlstand gebracht. Dies, obwohl sie im Gegensatz etwa zu Norwegen keine Rohstoffe besitzt, die sie exportieren könnte. Für die Schweiz als kleine und besonders von Ausfuhren abhängige Volkswirtschaft sind Freihandelsabkommen wie etwa jenes von 1972 oder die bilateralen Abkommen I und II mit der EU vital. Dagegen können Investitionsschutzabkommen, wie sie in der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP vorgesehen sind, die Demokratie aushebeln.
Diese Abkommen waren dafür gedacht, Investitionen in Ländern mit schlecht ausgebildetem Gesetzesrahmen vor Enteignung zu schützen – auch vor «indirekter Enteignung» durch staatliche Massnahmen. Ein Tabakkonzern kann demnach vor privaten Geheimgerichten auf Schadenersatz klagen, wenn er durch Entscheide der Gesundheitspolitik Absatz und Gewinne beeinträchtigt sieht. Drohende Schadenersatzzahlungen können den demokratischen Entscheidungsprozess beeinflussen.
*Gebhard Kirchgässner ist seit 1992 ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie an der Universität St. Gallen und Direktor des Schweizerischen Instituts für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung (SIAW). Seine Forschungsschwerpunkte sind Neue Politische Ökonomie, Angewandte Ökonometrie, Methodische Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Energie- und Umweltökonomik.