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Wirtschaft
Deutschland macht erste Schritte zur Lockerung: Am Montag haben Geschäfte zum Teil ihren Betrieb wieder aufgenommen. Doch einen Verkaufs-Boom erwarten Experten keineswegs.
Ein zaghafter Schritt zurück zu einer Zeit vor Corona: In den meisten deutschen Bundesländern durften am Montag Buchhändler, Autohäuser und Fahrradgeschäfte sowie Läden mit einer Verkaufsfläche bis zu 800 Quadratmeter unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln wieder öffnen. Reporter vor Ort berichten von steigenden Bewegungen in den Innenstädten. «Man freut sich total, jetzt geht es wieder los», sagt der Inhaber eines Bochumer Dekorationsladens gegenüber der Lokalpresse. In der zwischen Dortmund und Essen liegenden Stadt herrschte am Montag mehr Betriebsamkeit in der Innenstadt als in den vergangenen Wochen.
Doch einen Run auf die seit vier Wochen verschlossenen Geschäfte war im ganzen Land nicht zu verzeichnen. Experten überrascht die weitgehende Zurückhaltung der Konsumenten keineswegs. «Im Bereich Lifestyle und Mode wird die Zurückhaltung der Verbraucher länger anhalten. Diese Geschäfte werden sich schwertun, das Umsatzloch auszugleichen», zitiert die «Bild» den Konsumpsychologen Hans-Georg Häusel.
Mit Ausnahme von Spezialgeschäften wie Baumärkten werde der Konsum nur schleppend wieder anziehen. Millionen von Menschen wurden in der Corona-Krise in Kurzarbeit geschickt, die Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie treibt viele Menschen um. «Der Konsum wird nicht explodieren. Die Delle bleibt», so der Experte weiter: «Bei Dingen, die die Menschen nicht unbedingt brauchen, werden sie sich deshalb noch eine Weile zurückhalten.»
«Durcheinanderlaufen wie ein Hühnerhaufen»
Allerdings gleicht Deutschland bei den Corona-Massnahmen einem Flickenteppich: Denn nicht in allen Bundesländern gelten die gleichen Regeln im Umgang mit dem Virus. In Berlin und Brandenburg etwa öffnen kleinere Läden erst an diesem Mittwoch, in Bayern und Thüringen bleiben die Geschäfte bis zu Beginn der nächsten Woche geschlossen.
In Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein wiederum dürfen Geschäfte mit weniger als 800 Quadratmetern Verkaufsfläche auch in grossen Shopping-Malls Kunden empfangen, während in Sachsen - anders als im Rest des Landes - öffentliche Gottesdienste für eine beschränkte Zahl von Gläubigen wieder durchgeführt werden können. Manche Bundesländer wie Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern (ab kommender Woche) und Bayern führen eine Maskenpflicht in Einkaufszentren und im öffentlichen Verkehr ein.
Die Bundesregierung verzichtete noch vorige Woche auf eine allgemeine Maskenpflicht, gab aber die dringende Empfehlung zum Tragen eines Nasen-Mundschutzes heraus. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) warnte am Wochenende vor unterschiedlichen Vorgehensweisen im Kampf gegen Corona. «Wir dürfen nicht durcheinanderlaufen wie ein Hühnerhaufen und uns gegenseitig abwechselnd mit Verschärfungen und Lockerungen überbieten.» Und weiter: «Wenn wir jetzt die Nerven behalten, können wir einen zweiten Lockdown vermeiden. Deshalb ist ein gemeinsames Handeln von Bund und Ländern so wichtig.»
Die nur teilweise Wiedereröffnung gewisser Geschäfte stösst in Wirtschaftskreisen auf Kritik. Der Handelsverband Deutschland kritisierte die 800-Quadratmeter-Grenze als nicht nachvollziehbar. «Die jetzt beschlossenen Vorgaben führen zu Wettbewerbsverzerrungen und Rechtsunsicherheiten», meinte der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes, Stefan Genth. Es gäbe keine Argumente dafür, kleinere Läden zu eröffnen, grössere aber nicht. Abstands- und Hygieneregeln könnten überall eingehalten werden.
Merkel: «Öffnungsdiskussionsorgien»
Der Ruf nach weiteren Lockerungen wird auch deshalb lauter, weil die vom Robert Koch-Institut (RKI) präsentierten Zahlen für Deutschland grundsätzlich einen positiven Trend in der Ansteckungskurve bestätigen. Die Ansteckungsrate ist zwar leicht um 0,1 auf 0,8 gestiegen. Das bedeutet aber, dass die Zahl der Neuerkrankungen weiter leicht rückläufig ist. Bei dieser Rate steckt ein an Corona-Infizierter weniger als eine gesunde Person mit dem Virus an.
Auch die Tatsache, dass von den rund 30 000 Intensivbetten in deutschen Krankenhäuser noch 12 600 frei sind, lässt den Ruf nach weiteren Lockerungen lauter werden. Doch Merkels Chef-Virologe Christian Drosten warnt ausdrücklich vor Nachlässigkeiten und verweist auf eine mögliche zweite, weit heftigere Ansteckungswelle im Winter. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erteilte den Forderungen nach weiteren Lockerungen vorerst eine Absage.
Bei einer Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums kritisierte sie die «Öffnungsdiskussionsorgien» in einigen Bundesländern. Die Kanzlerin äusserte die Sorge, dass sich die gute Entwicklung bei den Corona-Infektionen wieder umkehre. Am 30. April will die Bundesregierung in den Verhandlungen mit den Bundesländern über das weitere Vorgehen im Kampf gegen Corona beraten. Deutschland meldete gestern 142 000 Corona-Infizierte, 4404 sind an dem Virus gestorben, mehr als 91 000 Menschen gelten wieder als genesen.