Gesundheitswesen
Die Einführung des elektronischen Patientendossiers verzögert sich

Der Bund hat die technischen Hürden unterschätzt. Wie viele tatsächlich schon bald über ein Patientendossier verfügen werden, ist zusehends unklar.

Andreas Möckli
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Das Patientendossier soll für Ärzte und Patienten die Abläufe vereinfachen und den Papierkrieg beseitigen. Thinkstock

Das Patientendossier soll für Ärzte und Patienten die Abläufe vereinfachen und den Papierkrieg beseitigen. Thinkstock

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Im Gesundheitswesen bahnt sich eine Revolution an. Künftig sollen Patienten digital auf ihre Gesundheitsdaten zugreifen können. Der Schlüssel dazu ist das elektronische Patientendossier (EPD). Ähnlich wie viele es vom E-Banking kennen, werden Patienten so auf Diagnosen des Hausarztes, Laborbefunde, Austrittsberichte von Spitälern und vieles mehr zugreifen können. Damit sehen Patienten beispielsweise, was der Hausarzt alles in der Krankenakte festhält. Dies dürfte das Verhältnis zwischen Arzt und Patient stark verändern.

Wie viele tatsächlich schon bald über ein Patientendossier verfügen werden, ist zusehends unklar. Denn wie sich nun zeigt, wird sich die Revolution verzögern. Vergangenen März schrieb das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einer Medienmitteilung, dass «die ersten Patientinnen und Patienten in der zweiten Hälfte 2018 ein elektronisches Patientendossier eröffnen können». Dieser Fahrplan stellt sich nun als unrealistisch heraus. In den meisten Kantonen dürfte es frühestens im nächsten Jahr so weit sein. «Wir gehen davon aus, dass wir das EPD per Ende 2019 vollständig zertifiziert anbieten können», sagt etwa Nicolai Lütschg, Geschäftsführer der Stammgemeinschaft eHealth Aargau. In der Schweiz gibt es derzeit zehn Stammgemeinschaften, die sich um die Einführung des EPD kümmern.

Erst wenn das Patientendossier vom Bund zertifiziert wurde, ist der Datenaustausch über die Kantonsgrenzen hinaus möglich. Einige Deutschschweizer Kantone wollen aber nicht mehr so lange warten. Dazu zählen die Kantone Basel-Stadt, Baselland und Solothurn, die sich im Trägerverein eHealth Nordwestschweiz zusammengeschlossen haben (siehe Kasten). Als einziger Kanton hat Genf 2013 das Patientendossier bereits eingeführt. Mehrere zehntausend Patienten nutzen dort das EPD bereits, jedoch eben mit dem Nachteil, dass es nur innerhalb des Kantons eingesetzt werden kann.

Weltweit einmalig

Das BAG gesteht ein, dass es mit seiner Medienmitteilung zu optimistisch war. «Wir gingen vergangenen Frühling davon aus, dass die ersten Kantone im besten Fall bereits in der zweiten Hälfte 2018 so weit sein könnten», sagt Salome von Greyerz, Leiterin Abteilung Gesundheitsstrategien beim BAG. Nun zeige sich, dass der Aufwand für die Kantone grösser sei als angenommen und sich die Einführung daher verzögere. Viele technische Fragen liessen sich nicht so rasch wie erhofft lösen.

Nordwestschweiz am schnellsten

In der Deutschschweiz sind die Nordwestschweizer Kantone Basel-Stadt, Baselland und Solothurn mit der Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD) am weitesten fortgeschritten. «Das erste konkrete Patientendossier erwarten wir in den letzten Wochen dieses Jahres», sagt Burkhard Frey, Präsident des Trägervereins E-Health Nordwestschweiz und Generalsekretär des Unispitals Basel. Bis dahin soll das EPD zertifizierbar sein. Allerdings seien die Zertifizierungsstellen noch gar nicht bereit, grünes Licht zu geben.

Deshalb wird das EPD in der Nordwestschweiz unzertifiziert an den Start gehen. Der Datenaustausch innerhalb der drei Kantone wird zwar möglich sein, jedoch nicht darüber hinaus. Zu Beginn werde man noch nicht bereit sein, einen riesigen Ansturm von Patienten zu bewältigen, sagt Frey. Er zieht Parallelen zur Eröffnung eines Bankkontos. Auch beim EPD müsse sich die Person ausweisen. «Wir müssen sicher sein, dass die Angaben der Patienten stimmen.» In der Südostschweiz soll das EPD Anfang 2020 starten. Dies sagt Richard Patt vom Verein eHealth Südost.

Ohnehin hat das ganze Projekt zahlreiche Tücken. Denn die Umsetzung des EPD ist ein technisch sehr anspruchsvolles Vorhaben. Obwohl es auf internationalen Standards basiere, sei das Zusammenspiel in der Komplexität weltweit einmalig, schreibt E-Health Suisse. Die Organisation wird vom Bund und den kantonalen Gesundheitsdirektoren getragen. Das EPD werde in der Schweiz sehr dezentral umgesetzt, was das Ganze nochmals verkompliziert.

Im September wurde im Rahmen eines Testlaufs geprüft, ob der Datenaustausch schweizweit funktioniert und die Systeme den Vorgaben entsprechen. Die Auswertung zeigte, dass das EPD bei diesem Stresstest zumindest in Teilen durchgefallen ist. «Bei diversen Arbeitsschritten konnten die definierten Konzepte entweder nicht umgesetzt oder ungenügend getestet werden», schreibt E-Health Suisse in einem Factsheet.

Technische Probleme und Verzögerungen bei IT-Projekten sind an sich nicht überraschend. Doch beim EPD hat der Gesetzgeber eine klare Zeitvorgabe gemacht. So müssen alle Spitäler bis Mitte April 2020 ihre Systeme so weit angepasst haben, dass sie mit dem Patientendossier arbeiten können. Dies hat das Parlament im Rahmen der Beratung des EPD in das Krankenversicherungsgesetz (KVG) hineingeschrieben.

Im erwähnten Factsheet versucht eHealth Suisse zu beruhigen. Zwar würden die Stammgemeinschaften erst im zweiten Halbjahr 2019 zertifiziert werden. Am geplanten Einführungstermin im Frühling 2020 könne jedoch festgehalten werden, da das EPD bis zu diesem Zeitpunkt schrittweitweise aufgebaut und getestet würde. Lütschg von der Aargauer Stammgemeinschaft sagt, dass die Frist für die Spitäler sehr knapp bemessen sei.

Das BAG geht weiterhin davon aus, dass das EPD im Frühling 2020 vollständig eingeführt ist, wie von Greyerz sagt. Konkret sei damit gemeint, dass in der ganzen Schweiz Angebote bestehen und dass das EPD in den Spitälern angeboten werde.

Angst vor Datenfriedhof

Neben dem ambitionierten Zeitplan meldet unter anderem die Ärztegesellschaft FMH mehrere Bedenken an. Umstritten ist etwa der Begriff der behandlungsrelevanten Daten. Im Gesetz zum Patientendossier wurde offengelassen, was als behandlungsrelevant gilt und was nicht. «Es kann nicht die Idee sein, dass im EPD alle möglichen Informationen abgelegt werden», sagt Yvonne Gilli, die im Zentralvorstand der FMH das Departement eHealth und Digitalisierung leitet. Dem Bedürfnis einer möglichst umfassenden Information stehe das Interesse gegenüber, das EPD möglichst übersichtlich zu gestalten. Es müsse inhaltlich auf das medizinisch Wesentliche beschränkt werden, um dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu entsprechen. Nur so könnten Ärzte oder andere Gesundheitsfachpersonen die wirklich wichtigen Informationen rasch finden.

Zudem stellen sich für die Ärzte auch rechtliche Fragen. So ist unklar, ob sie dafür haften, wenn Ärzte einen Befund im EPD nicht abgelegt haben, der später für die Behandlung im Spital oder in einem Notfall wichtig gewesen wäre. Würden dagegen zu viele Dokumente abgelegt, so drohten die Patientendossiers zu einem Datenfriedhof zu verkommen, sagt Gilli.

Unbestritten ist, dass das EPD einen enormen Mentalitätswandel mit sich bringen wird. Lütschg sieht im Patientendossier einen Paradigmenwechsel, wenn Patienten und andere Gesundheitsfachpersonen beispielsweise plötzlich Teile der Krankengeschichte des Hausarztes lesen können. Er spricht deshalb von einer Revolution im Gesundheitswesen. Es sei höchste Zeit, dass das EPD nun eingeführt werde. Viele junge Ärzte arbeiten schon längst mit digitalen Systemen und aufseiten der Patienten würden die jüngeren Generationen immer stärker nach digitalen Lösungen verlangen.