In Aktien investieren ist wie Bergsteigen. Wer den Gipfel kennt, ist im Vorteil.
In den letzten hundert Jahren gab es nur zwei weitere Phasen, in denen die Wachstumsaktien derart stark von ihrer fundamentalen Bewertung abgewichen sind wie gegenwärtig. Den Ausgang kennen wir nur allzu gut. Es ist wie beim Bergsteigen: Irgendwann ist man zuoberst, dann geht’s wieder runter. Zu wünschen bleibt einem dann nur noch, dass es nicht ein Absturz wird.
Wer in einem atemberaubenden Tempo einen Berg erklimmt, muss auch mal durchatmen. Ohne offensichtlichen Anlass haben in den letzten Tagen verschiedene Marktteilnehmer «Gewinne realisiert». Es handle sich um eine «gesunde Korrektur», wird dem steilen Aufwärtstrend beschieden. Dabei waren die Ausschläge schon heftig. Apple büsste allein am 3.September 180 Milliarden Dollar an Unternehmenswert ein. Bei Tesla waren es seit Monatsbeginn rund 100 Milliarden Dollar.
Solche Grössenordnungen mögen irritieren. Wenn jedoch ein Aktienkurs in einem beinahe exponentiellen Kursverlauf in die Höhe schiesst, gewinnt er damit immer auch an Fallhöhe. Das trifft auch auf Start-ups und kleinere Unternehmen zu. Zoom Video Communications ist eine Firma, deren Videokonferenz-Angebot erst im Laufe der letzten sechs Monate bekannt wurde. In einem frenetischen Hype wurde die Gewinneraktie aus der Coronakrise so hochgejubelt, dass sie zu Monatsbeginn sogar höher bewertet wurde als IBM. Bis Freitagabend fiel die Zoom-Aktie dann allerdings 20 Prozent zurück. Bei TeamViewer, ein weiterer Krisengewinner, waren es «nur» 10 Prozent. Bei den Tech-Firmen haben die Bewertungen astronomische Höhen erreicht. Die Aktie eines konservativen Versicherers wie Swiss Life kostet etwa den zehnfachen Jahresgewinn. Bei einem breit aufgestellten Pharmakonzern wie Roche oder Novartis liegt der Kurs ungefähr beim 15-fachen Gewinn. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) bei Zoom liegt dagegen bei 460 und bei Tesla bei sagenhaften 900.
Das ist zwar schon aussergewöhnlich hoch, aber der prominenteste Höchstwert unter den KGV liegt derzeit bei weit über 2000: Die kalifornische Salesforce.com hat bislang nur Verluste geschrieben. Im allerjüngsten Geschäftsjahr (per Ende Juli 2020) konnte erstmals ein Gewinn vorgelegt werden. Dieser fiel mit etwas mehr als 100 Millionen Dollar tatsächlich stolz aus. An der Börse wird die Software-Firma, selbst nach einem Taucher von 10 Prozent in den letzten drei Tagen, mit 232 Milliarden Dollar bewertet. Das hat dazu geführt, dass die Aktie in den prominentesten Index der Welt aufgenommen wurde, den Dow Jones.
Wer sein Tech-Unternehmen auf Hochglanz poliert, kann derzeit fast sicher sein, dass ihm blindes Vertrauen geschenkt wird. Mehr noch: Man bekommt eine Spitzenposition in einem Index, und das ist besonders attraktiv: Alle Pensionskassen, die fasziniert vom kostengünstigen, arbeitsarmen und analysefreien passiven Investieren sind, investieren den Grossteil ihrer Aktien in ebendiese Technologiewerte. Noch nie in der Börsengeschichte war der Anteil der passiven Gelder so hoch, und noch nie waren die Technologiewerte so hoch bewertet. Das heisst: Absturzgefährdet sind nicht nur die einzelnen Unternehmen, sondern mit ihnen die passiven Investoren.
Manche bescheiden sich bei einfallendem Nebel und zunehmender Orientierungslosigkeit mit einer Rückkehr ins Tal. Andere legen sich in solchen Zeiten allerspätestens das Rüstzeug zu, um sich sicher abzuseilen. Gewiss liegt der Vorteil beim «normalen» Alpinismus darin, dass man den Gipfel kennt. Viele schleppen sich dank fremder Hilfe dahin. An den Aktienmärkten sorgt das günstige Zentralbankengeld tatsächlich auch für Sauerstoff, aber die Sherpas fehlen, und die Orientierung per GPS sowieso: Der höchste Punkt bleibt unbekannt.
Die Tech-Aktien bewegen sich längst in der gefährlichen Zone, aber wer zu früh aufgibt, verpasst letztlich den Gipfel und muss sich vor seinen Kollegen rechtfertigen. Dies braucht Mut. Aber dafür wird man mit der sicheren Rückkehr ins Basislager belohnt. Es gibt erfahrene Bergsteiger, die alt geworden sind, weil sie Risiken richtig einzuschätzen vermögen. Jene, die alles riskieren, auch auf den letzten Metern, sind selten alt geworden.
Maurice Pedergnana ist Professor für Banking und Finance an der Hochschule Luzern und Studienleiter am Institut für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ).