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Wirtschaft
Nach zehn Jahren Finanz- und Schuldenkrise sollten die Wirtschaftswissenschaften endlich lernen, auch eigene, lieb gewonnene Theorien und Konzepte über Bord zu werfen.
«Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist», soll der französische Romancier Victor Hugo einst gesagt haben. Hugos Zeit war das frühe 19. Jahrhundert – die Blütezeit der Aufklärung und des gesellschaftlichen Wandels; die Zeit der ganz grossen Ideen eben. Obwohl seit diesen Tagen schon mehr als 200 Jahre ins Land gezogen sind, lebt der Mythos der grossen Ideen mindestens in der Zunft der Ökonomen weiter. «Etwas mehr Bescheidenheit stünde uns besser an», sagt David Iselin, ein junger Nachwuchsforscher an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Der 35-jährige Basler lernte an der Universität viel über ökonomische Konzepte, von denen er sagt, man hätte sie schon an den Vorlesungen viel stärker hinterfragen sollen.
Vielen ökonomischen Theorien und Lehrmeinungen liegt beispielsweise bis heute das Konzept des «homo oeconomicus» zugrunde – ein fiktives Wesen, das lauter streng rationale Entscheidungen trifft, um seine (primär wirtschaftlichen) Lebensumstände zu verbessern. Dabei handelt der Homo oeconomicus stets so, wie wenn er keine Familie, keine Freunde und schon gar keine Nachbarn hätte. Auch andere Emotionen wie zum Beispiel der Patriotismus oder der Fremdenhass sind diesem künstlichen Wesen fremd. Der Homo oeconomicus entspringt einer Idee, wie sie Adam Smith, der Urvater der modernen Ökonomie, einst mit dem Bild der «unsichtbaren Hand» beschrieben hatte: Individuen, die in Freiheit ihren persönlichen (ökonomischen) Nutzen maximieren, werden durch die unsichtbare Hand so geführt, dass sie zusammen etwas wie eine allgemeine Wohlfahrt schaffen.
Während sich wissenschaftliche Disziplinen wie die Biologie oder die Physik den angemessenen Umgang mit komplexen Systemen längst zur Daueraufgabe gemacht haben, versuche die Ökonomie vielschichtige Fragestellungen immer noch zu oft mit übermässig stark vereinfachten Modellen darzustellen, kritisiert Iselin. Der Ökonom hat unter seinen Berufskollegen, aber auch bei Psychologen, Ethnologen und Soziologen 71 Aufsätze gesammelt, die alle eine «ökonomische Idee zum Vergessen» beschreiben (siehe am Ende des Artikels). Iselin liess sich in dem Buchprojekt von einem alten Hasen der Ökonomenzunft begleiten: Der emeritierte Zürcher Wirtschaftsprofessor Bruno S. Frey gilt auch im Alter von 76 Jahren noch als einer der einflussreichsten und meistzitierten Ökonomen in der Schweiz und in Europa. «Die Ökonomie ist eine anpassungsfähige und robuste Wissenschaft, sie hat es nicht nötig, sich an alten Ideen festzuklammern», sagt Frey.
«Das Buch soll eine Provokation für Ökonomen sein, die nicht mit der Zeit gehen wollen», sagen die beiden. Die Texte verstehen sich aber auch als Provokation an die Adresse der Ökonomen-Kritiker, von denen es seit der Finanzkrise mehr gibt als je zuvor. «Das Buch zeigt, dass wir Ökonomen doch weiter sind, als viele unserer Kritiker denken», so Iselin.
Erst mit der Krise wurde offensichtlich, in welchem Mass die Ökonomen die Vertreter anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen in den vergangenen Jahrzehnten auch in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion in den Hintergrund gedrängt hatten. 2003, kurz vor dem Ende einer 30-jährigen Phase der wirtschaftlichen Stabilität, erklärte Nobelpreisträger Robert Lucas anlässlich der Jahresversammlung der amerikanischen Ökonomenvereinigung: «Das Hauptproblem der Krisenprävention ist gelöst.» Vier Jahre später war es mit der Stabilität vorbei. Solche rhetorischen Rohrkrepierer vermitteln dem Buch über gescheiterte ökonomische Ideen eine fast schon unheimliche Plausibilität. Bereits gibt es den Ruf nach einem zweiten Buch, diesmal mit ökonomischen Ideen, die man unbedingt im Kühlschrank frisch halten sollte. «Mülleimer-Ideen zu sammeln, ist viel einfacher», räumt Iselin ein.
Ein Auslaufmodell ist für Margrit Osterloh, Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Zürich, die Idee des Leistungslohns. Fixlöhne, ergänzt durch Auszeichnungen und Feedback, hätten eine stärkere Wirkung auf die Arbeitsleistung als der Bonus, schreibt sie unter Verweis auf Untersuchungen, die den Nutzen des Leistungslohnes für komplexe, mehrschichtige Tätigkeiten nicht nachweisen konnten.
Osterloh argumentiert, dass Manager ihre Arbeit nicht nur erledigen wollen, um mehr Geld zu erhalten. Vielmehr suchen sie in der Arbeit auch Begeisterung. Sie seien eben auch «intrinsisch motiviert». Ironischerweise hat mit dem finnischen Ökonomen Bengt Holmström letzten Herbst einer der Erfinder des Leistungslohnes den Nobelpreis erhalten. 1979 zeigte der Wissenschafter in einem viel beachteten Aufsatz, dass ein vertraglich optimal aufgesetzter Lohn für einen Manager direkt von den Folgen seiner Entscheide abhängen sollte. (dz)
Wer von Wirtschaftswachstum spricht, meint üblicherweise die Zunahme des Wohlstandes pro Kopf, gemessen am Bruttoinlandprodukt. Ein persönlicher Wohlstandsgewinn gibt Raum für mehr Konsum. Aus diesem Zusammenhang lassen sich aber keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Zufriedenheit der Menschen ziehen, schreibt Richard Easterlin von der University of Southern California.
Erstens fokussierten gängige Wirtschaftstheorien allein den Konsum materieller Güter, während andere Aspekte des Lebens vernachlässigt würden. Ein noch grösseres Defizit ist für Easterlin aber, dass die Feststellungen über Zufriedenheit als Folge von wirtschaftlichem Wachstum nicht von den betroffenen Menschen selber, sondern von Statistikern getroffen würden. (dz)