Die Annahme der Zuwanderungsinitiative trübt das Investitionsklima ein, sagen Ökonomen. Die Wirt-schaft wächst aber vorerst kräftig weiter. Die Debatte um die Ausgestaltung der Kontingente nimmt derweil Fahrt auf.
Von einer Schockstarre war in der Schweizer Wirtschaft gestern nicht viel zu spüren. Viele Wirtschaftsführer setzen am Tag 1 nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative auf Pragmatismus und Nüchternheit. «Das Volk hat entschieden, das gilt es zu akzeptieren. Volksentscheide drücken die Ängste und Erwartungen der Bevölkerung aus. Das ist legitim», sagt Johannes Milde (61). Milde ist CEO von Siemens Building Technologies. Mit rund 1700 Mitarbeitern ist das Unternehmen der grösste Arbeitgeber im Kanton Zug. Viele seiner Fachkräfte muss das Unternehmen in der EU rekrutieren.
Als CEO einer grossen, international tätigen Firma sehe er den Volksentscheid mit grosser Sorge, sagt Milde. «Ich rechne mit langwierigen Verhandlungen mit der EU», sagt er. Das Wichtigste werde jetzt sein, dass die Verhandlungen so geführt würden, dass die Anliegen der Initiative umgesetzt würden, ohne die bilateralen Verträge zu gefährden. «Schwierig würde es, wenn die bilateralen Verträge keinen Bestand mehr hätten», sagt Milde. Der 61-Jährige engagiert sich auch als Präsident der Wirtschaftskammer Zug.
Seine Forderung gleicht einer Quadratur des Kreises. Die Initiative umsetzen heisst, die Zuwanderung künftig wieder mit Kontingenten zu steuern. «Die EU wird grundsätzlichen Kontingenten aber nicht zustimmen. Das ist eine der Schwierigkeiten, die der Bundesrat lösen muss», sagt Werner Messmer, Zentralpräsident der Schweizerischen Baumeisterverbands.
Messmer kann sich eine Lösung abseits der ehemals angewandten Kontingente für Fachkräfte aus der EU vorstellen. «Der Schlüssel könnte in der begleiteten Zuwanderung liegen», sagt Messmer. Die benötigten Arbeitskräfte könnten wie bisher ohne Beschränkungen zuwandern, erklärt Messmer. Im Gegenzug müsste die Schweiz die Familienzuwanderung restriktiver handhaben. «Das könnte bedeuten, Kinder und Eheleute können nach einer bestimmten Frist einreisen, aber das muss nicht unbedingt für Grosskinder und andere Verwandte gelten», sagt Messmer. Die «Begleitpersonen» machten rund die Hälfte der Einwanderer aus.
Die Baubranche ist besonders stark auf die Zuwanderung von Arbeitskräften angewiesen. 90 000 bis 100 000 Personen arbeiten gemäss Messmer auf Schweizer Baustellen. «Davon stammen bis zu 60 Prozent aus der EU», sagt er. Am meisten Bauarbeiter stammen aus Portugal, gefolgt von Spanien und Italien. Die meisten Arbeiter haben Aufenthaltsbewilligungen für mehrere Jahre. Die Fluktuation bei den Arbeitern liege bei 15 bis 20 Prozent pro Jahr. «Das heisst, allein unsere Branche bräuchte ein Kontingent von über 10 000 Mitarbeitern», sagt der Thurgauer Bauunternehmer und frühere FDP-Nationalrat.
Kopfzerbrechen bereitet Messmer auch der von den Initianten geforderte Inländervorrang bei der Besetzung von Stellen. «Es ist unmöglich, für alle Bauarbeiter nachzuweisen, dass wir für diese Stellen keinen Schweizer finden konnten», sagt Messmer. Siemens-Technologies-Chef Milde sieht das Thema gelassen. «Wir suchen Ingenieure, Elektrotechniker und Fachspezialisten aus verschiedensten Bereichen, hier ist der Arbeitsmarkt in der Schweiz leer gefegt», sagt Milde. Ein allfälliger Inländervorrang würde das Zuger Unternehmen nicht beeinträchtigen. Die Frage sei eher, wie hoch allenfalls die Kontingente ausfielen. «Wir hoffen natürlich, dass dabei die Unternehmen bevorzugt werden, die eine hohe Wertschöpfung und Innovationskraft haben», bekräftigt Milde.
Anders tönt es im Gastgewerbe. «Es darf nicht so weit kommen, dass einmal mehr die kleinen und mittelgrossen Betriebe, die das Gastgewerbe massgeblich prägen, den Preis für die Verschlechterung der Rahmenbedingungen zahlen», heisst es beim Branchenverband Gastrosuisse. Gross ist der Fachkräftebedarf auch im Pflege- und Spitalbereich. Jeder sechste Mitarbeitende am Luzerner Kantonsspital hat einen Pass aus einem EU-Land. Uneinheitlich schätzen die Ökonomen die Auswirkungen des Ja zur Zuwanderungsinitiative ein. «Es ist wahrscheinlich, dass Unternehmen in Einzelfällen Investitionen verschieben oder zurückstellen», sagt Yngve Abrahamsen von der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich.
Die Ökonomen der Credit Suisse rechnen damit, dass die Schweizer Wirtschaft in diesem Jahr um 2 Prozent wachsen wird. Aufgrund der Verunsicherung der Unternehmen würden aber im Zeitraum von 2014 bis 2016 gesamthaft rund 80 000 neue Stellen weniger geschaffen als bisher prognostiziert (siehe Grafik), so die Ökonomen der Credit Suisse. Die Zuwanderung werde 2015 deswegen von 70 000 auf 50 000 Personen sinken. Das habe auch negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum. Bis 2016 koste das gesamthaft 0,3 Prozent an Wachstum. Das entspricht rund 1,2 Milliarden Franken. «Die aktuelle Unsicherheit ist Gift, weil weniger in Personal investiert wird», sagt CS-Ökonom Claude Maurer. Die Prognose der UBS fiel hingegen deutlich positiver aus (siehe Box).
Walter Stalder, der Direktor der Wirtschaftsförderung Luzern, ist da weit weniger pessimistisch. «Die Unternehmen werden auch künftig genug Fachkräfte erhalten», sagt Stalder. Zunehmen werde lediglich der bürokratische Aufwand. Für Fachpersonal aus Drittstaaten bestünden auch heute noch Kontingente in der Schweiz. Dennoch bekämen die Firmen die benötigten Arbeitskräfte. Die Annahme der Initiative erschwere zwar seine Arbeit als Wirtschaftsförderer, sagt Stalder. «Doch auch in der Steuerpolitik gibt es aktuell zahlreiche Unsicherheiten, und wir können trotzdem neue Firmen ansiedeln – einfach mit mehr Aufwand und Überzeugungsarbeit», sagt Stalder.
Auch Arbeitsmarktökonom George Sheldon von der Universität Basel erwartet, dass die Kontingente im Sinne der Wirtschaft ausgestaltet würden. «Wenn zum Beispiel ein grosser Pharmakonzern sagt, er brauche 50 ausländische Forscher, dann wird er diese bekommen», sagte er der Nachrichtenagentur SDA. So könne es sein, dass die Einwanderung gar nicht gebremst würde.
Masseneinwanderung Teure und rare Mietwohnungen in den Wirtschaftszentren der Schweiz dürften viele Stimmbürger zu einem Ja zur Initiative «Gegen Masseneinwanderung» motiviert haben. Doch des einen Freud ist auch immer des anderen Leid – gibt es ein Überangebot auf dem Wohnungs- und Immobilienmarkt, sinken nicht nur die Mieten, sondern auch die Immobilienpreise.
Ein Nachfragerückgang und damit ein Wertverfall von Häusern und Wohnungen hätte zum Beispiel Auswirkungen auf die Pensionskassen, die einen grossen Teil der Vorsorgegelder in Immobilien investiert haben. Zuallererst wären Bauten in Randgebieten betroffen, heisst es bei der Immobilienberatungsfirma Jones Lang LaSalle.
Laut Markus Schmidiger, Studienleiter Immobilienmanagement Institut für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ), ist die Unsicherheit nun gross. «Bevor die konkrete Umsetzung, für die der Bundesrat drei Jahre Zeit hat, nicht klar ist, ist es schwer, die Folgen abzuschätzen. Unmittelbar verändert sich nichts, ausser dass aufgrund der Unsicherheit Käufer etwas zurückhaltender sein könnten, was zu einer leichten Preisabschwächung führen könnte», erklärt der Experte. Gleichzeitig gibt er aber Entwarnung bei den Immobilienpreisen. «Die hohen Preise sind primär durch die tiefen Zinsen sowie im Vergleich zum Nachfragewachstum wesentlich zu tiefer Bautätigkeit getrieben. Ein Rückgang der Zuwanderung auf 40 000 bis 50 000 Personen pro Jahr hat einen viel geringeren Einfluss auf die Preise als Zinserhöhungen», betont Schmidiger. Da die Initiative frühestens in drei Jahren Wirkung zeigen würde, hätte die Immobilienbranche ausreichend Zeit, die Bautätigkeit anzupassen. «Ein Absturz ist sicher nicht zu befürchten», fügt er an.
Ähnlich sehen es die Immobilienexperten der Luzerner Kantonalbank (LUKB). Die aktuelle Situation auf dem Immobilienmarkt lasse sich somit nicht monokausal mit der Zuwanderung erklären. «So wäre neben der Konjunktur und der Zinssituation beispielsweise auch zu unterscheiden, welchen Einfluss die Binnennachfrage und welchen Einfluss die Zuwanderung aus dem Ausland auf bestimmte Lagen hatte und hat», so Daniel von Arx von der LUKB. Man habe bereits in den vergangenen Monaten festgestellt, dass sich die Nachfrage im Raum Luzern (Weggis, Vitznau, Meggen, Kastanienbaum) insbesondere bei Objekten im oberen Preissegment verflacht habe.
Nelly Keune